Der unheilvolle Mythos um Gorch Fock

Navigare necesse est, vivere non est necesse. In See stechen ist nötig – und Überleben ist unwichtig?

  • Horst Diere
  • Lesedauer: 6 Min.

»Seefahrt ist not« – Das ist der Titel eines Buches, das 1913 erstmalig erschien, in der Folgezeit immer wieder aufgelegt wurde und als das Hauptwerk des niederdeutschen Heimatdichters Johann Kinau gilt, dessen Pseudonym dem wohl bekanntesten deutschen Großsegler und Schulschiff der Marine den Namen gab: Gorch Fock. Die ganze Liebe des auf der Elbinsel Finkenwärder unterhalb Hamburgs als Sohn eines Hochseefischers geborenen Dichters galt der See, ohne physisch dem Seemannsberuf gewachsen zu sein. Er durchlief eine kaufmännische Lehre, wurde Buchhalter und zu Beginn des Ersten Weltkriegs zur Infanterie eingezogen, bis schließlich seiner Meldung zur Kaiserlichen Marine stattgegeben wurde.

Des Kaisers aggressive Flottenpropaganda

Gorch Fock wurde am 18. April 1916 ohne besondere Aufgaben dem Kleinen Kreuzer »Wiesbaden« als Matrose zugeteilt, um als Schriftsteller über Einsätze der Flotte berichten zu können. Wenige Wochen später ereilte den 36-Jährigen in der Skagerrakschlacht sein Schicksal. Auf dem Seemannsfriedhof der schwedischen Schäreninsel Steensholmen, wo angeschwemmte Tote dieser Seeschlacht beigesetzt wurden, erhielt auch Gorch Fock sein Grab.

Seine »Seefahrt ist not« fand unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, als die deutschen Flottenrüstungen ihren Höhepunkt erreicht und sich vor allem deshalb die deutsch-englischen Gegensätze aufs äußerste zugespitzt hatten, ein breites Echo. Der Roman, der das Leben und Sterben auf See von Hochseefischern aus Focks Heimat verherrlichte, traf auf eine in Deutschland propagandistisch aufgeheizte Atmosphäre nationalistischer Flottenbegeisterung und wurde mit seinem griffigen Titel selbst zu einem ihrer Bestandteile.

Das in der Flottenpropaganda des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und der faschistischen Diktatur an Gorch Focks Romantitel gebundene und politisch instrumentalisierte Schlagwort hatte vor fast 2000 Jahren einen eher unpolitischen Ursprung in dem lateinischen »Navigare necesse est, vivere non est necesse«: In See stechen ist nötig, leben ist nicht notwendig. Mit diesen Worten soll der römische Konsul und Feldherr Pompeius (106-48 v.Chr.) als erster auf ein Schiff gesprungen sein und den Befehl zum Ablegen gegeben haben, als Seeleute wegen eines besonders schweren Sturms nicht auslaufen wollten.

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Verlust der deutschen Kriegs- und Handelsflotte wurde der erste Teil der deutschen Version dieses einstigen römischen Befehls zum Kern eines an der Wiederherstellung deutscher Seemacht geistig mitwirkenden Gorch Fock-Mythos. Bereits im August 1921 erlebte in Berlin ein nach Gorch Focks Roman gedrehter, gleichnamiger Film seine Uraufführung.

Hatte die Kaiserliche Marine vor dem Ersten Weltkrieg wegen des technischen Fortschritts auf eine Segelschiffsausbildung ihrer Offiziere und Unteroffiziere verzichtet, so ging die Reichsmarine der Weimarer Republik erneut dazu über. Das hierfür benutzte Segelschulschiff »Niobe« geriet am 27. Juli 1932 in der Ostsee beim Feuerschiff »Fehmarn-Belt« in eine plötzliche Sturmböe, kenterte und riss 69 Mann der Besatzung, darunter 46 junge Offiziers- und Unteroffiziersschüler, mit in die Tiefe. Eigentlich Grund genug, um auf eine weitere Segelschulschiffsausbildung zu verzichten. Doch die Marineleitung tat dies keineswegs. Ihr Chef, der spätere Großadmiral Erich Raeder, begründete das in seinem Erinnerungsbuch so: »Die Festigung des Charakters, des Mutes und der Entschlossenheit ist bei der Segelschulschiffsausbildung am besten gewährleistet.«

Den in den letzten Monaten der Weimarer Republik vorbereiteten Bau eines neuen Segelschulschiffs vollzog die Hamburger Blohm & Voss-Werft in nur hundert Tagen, den ersten der faschistischen Diktatur. Unterm Hakenkreuz lief die 1500 Tonnen-Bark am 3. Mai 1933 vom Stapel und wurde nach Raeders Rede von der 1. Vorsitzenden des Flottenbundes Deutscher Frauen auf den Namen »Gorch Fock« getauft. Dieser Bund, der dem schon 1898 gegründeten einflussreichen Deutschen Flottenverein eng verbunden war, hatte beträchtliche Gelder für die »Gorch Fock« aufgebracht. Der Flottenverein ging im Zuge der faschistischen Gleichschaltung 1934 im »Reichsbund deutscher Seegeltung« auf, der der NSDAP angeschlossen war und die Aufgabe erhielt, »durch eine groß angelegte Werbung jedem Deutschen den alten ... Satz ein(zu)prägen: ›Seefahrt ist not!‹«

Wie aus Hitlers Schiff Towarischtsch wurde

Das heute als »Gorch Fock I« bezeichnete Segelschulschiff der Kriegsmarine wurde von seiner Besatzung am 1. Mai 1945 im Strelasund versenkt. 1947/48 von der sowjetischen Marine gehoben, erhielt es nach der Reparatur nun als sowjetisches Schulschiff den Namen »Towarischtsch« (Genosse). Es fiel beim Ende der Sowjetunion an die Ukraine, der aber die Mittel zur Erhaltung des inzwischen stark überholungsbedürftigen Schiffes fehlten. Schließlich gelangte die Bark in den Besitz des Vereins Tall Ship Friends und erhielt als »Gorch Fock I« einen Liegeplatz im einstigen Heimathafen Stralsund.

Nach den Plänen der »Gorch Fock« waren in Hitlerdeutschland im Zuge der maritimen Aufrüstung bei Blohm & Voss drei weitere Segler in Auftrag gegeben worden. In Dienst gestellt wurden die »Horst Wessel« und die »Albert Leo Schlageter«. Nomen est omen! Das erstgenannte Schulschiff trug den Namen eines »Blutzeugen« der Nazi-Bewegung, das zweite den eines zum nationalen Helden stilisierten Freikorpskämpfer, der während der Ruhrbesetzung 1923 von den Franzosen standrechtlich erschossen worden war. Das unfertige dritte Schiff sollte »Herbert Norkus«, nach eines 15-jährigen Angehörigen der HJ heißen, der 1932 in den politischen Auseinandersetzungen auf den Straßen Berlins gestorben war.

In den 50er Jahren entbrannte in den Führungskreisen der eben erst geschaffenen Bundesmarine wiederum die Diskussion um das Für und Wider eines Segelschulschiffs zur Ausbildung des Offiziers- und Unteroffiziersnachwuchses. Den Hintergrund dafür bildete der Untergang der »Pamir«, Segelschulschiff der Handelsmarine, in einem Hurrikan südwestlich der Azoren am 21. September 1957. Das »Pamir«-Unglück, das von 86 Mann lediglich sechs überlebten, führte in der zivilen Schifffahrt zum Ende der Seemannsausbildung auf Segelschiffen, weil man das in unserer Zeit für überflüssig und zu gefährlich hielt.

Anders im militärischen Bereich. Hier setzte sich gegen erhebliche Bedenken und starken Widerstand der erste Inspekteur der Bundesmarine, der schon NS-gediente Vizeadmiral Friedrich Ruge, mit einer ähnlichen Begründung durch, wie sie Raeder rund 25 Jahre zuvor gebraucht hatte, dass nämlich das Arbeiten in der Takelage der Charakterprägung und -stärkung dienlich wäre. Die gegenwärtig nicht abreißenden Nachrichten über die Zustände auf der »Gorch Fock II« sprechen indessen eine andere Sprache.

Gebaut wurde die »Gorch Fock II« nach den Plänen ihrer Schwesterschiffe aus der Kriegsmarine-Zeit ebenfalls bei Blohm & Voß. Die Taufrede beim Stapellauf dieses Schiffes am 23. August 1958 hielt in niederdeutscher Mundart der Bruder Gorch Focks, Rudolf Kinau, dessen Tochter anschließend das Schiff auf den Namen des »Seefahrt ist not«-Dichters taufte. 2000/01 wurde das Schiff saniert; statt der geplanten 11,5 Millionen Euro verschlang die Generalüberholung 21,4 Millionen, fast das Doppelte. Nicht nur diese ungeheure Summe lässt das ganze Unternehmen fragwürdig erscheinen. Die Deutsche Marine rühmt sich, supermoderne U-Boote und bald auch entsprechende Fregatten zu besitzen. Was also soll in Zeiten von teuren Hightech-Kriegsschiffen ein Segelschulschiff, zumal sich auf ihm ganz offensichtlich eine tiefe Kluft zwischen den offiziell verkündeten hehren Ansprüchen und der Wirklichkeit, zwischen Schein und Sein aufgetan hat?

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