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Was Menschen auf die Barrikaden bringt
Amartya Sen über die Idee der Gerechtigkeit – für ihn zählt praxisorientierte Vernunft
Mit einer scheinbar harmlosen Parabel beginnt Amartya Sen seine Überlegungen zur Gerechtigkeit, einem der meistdiskutierten Probleme innerhalb der philosophisch-juristischen wie der politischen Gegenwartsliteratur, aber auch der Parteienprogrammatik: Drei Kinder streiten darüber, wem von ihnen eine Flöte gehören sollte. Das Kind A. hatte als einziges Musikunterricht und kann Flötespielen; das Kind B. ist das ärmste und hat keinerlei anderes Spielzeug; das Kind C. hat die Flöte mit viel Ausdauer selbst angefertigt. Wem von den Dreien soll, wenn es gerecht zuginge, die Flöte gehören? Utilitaristen, Egalitäre und Libertäre kamen wohl zu gegensätzlichen Entscheidungen, vermerkt Sen, und zitiert dabei (wie auch gelegentlich andernorts in seinem Buch) Karl Marx.
Unseres Autors Heimatländer sind Indien und Bangladesch. Ein Schlüsselerlebnis aus seinen Kindertagen war die Entscheidung Churchills, in der britischen Kolonie gegen die bengalische Hungersnot von 1943, an deren Folgen dann drei Millionen Menschen umkamen, nichts zu unternehmen, um nicht der Kriegführung gegen Deutschland und Japan notwendige Getreidelieferungen zu entziehen, und außerdem seien nach Sir Winstons Meinung die Hindus »the beastlies people in the world next to the Germans«. Kein Wunder, dass Sen über das Verhältnis von Armut, Hungersnot und Demokratie umfangreiche Bücher publizierte, deren Ergebnisse in das jetzige Werk einflossen. Ihre Quintessenz lautet, dass es in der gesamten Weltgeschichte noch nie zu einer schweren Hungersnot in einer funktionierenden Demokratie gekommen sei. Freilich: funktionierende Demokratien, wann und wo gab es denn die?
Als erstem Asiaten wurde ihm, der freilich seit mehr als zwanzig Jahren vornehmlich an der Harvard-Universität, der ältesten Hochschule der USA, lehrt, 1998 der Nobelpreis für seine Forschungen über Wohlfahrtsökonomie und Wirtschaftsentwicklung zugesprochen. Der Gefahr, von allen Seiten, den eher Linken wie den Liberalen, vereinnahmt zu werden, entging er bei solch einer Thematik natürlich nicht. Sogar als Mutter Teresa der Wirtschaftswissenschaft ist er bezeichnet worden. Was ihm wenig gefiel. Schließlich begnügen sich seine Überlegungen nicht mit einer Einrichtung von Suppenküchen und Verbandsplätzen für Hungernde und Sterbende, sondern zielen auf grundsätzlichere Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur, freilich vor allem der politischen.
Sens Sinn für Ungerechtigkeiten ist globaler, ja universaler Natur. Wie aber auch seine Scheu vor Theorien, die einen Universalschlüssel für den Eintritt in eine gerechte Welt gefunden zu haben beanspruchen. Seine Stärke liegt im Konkreten, im Argumentieren über gewesene oder gegenwärtige Ungerechtigkeiten, über die Kriterien ihrer Beurteilung wie die Möglichkeiten ihrer Verhinderung. Seine differenzierende Urteilskraft bei der Bewertung komplizierter Situationen ist enorm. Nichts Menschliches ist ihm fremd. Von der heutzutage bei rechts bis halblinks üblichen Illusion, dass die Übel der Weltgesellschaft von heute allein dadurch geheilt werden können, dass man dem Markt der Waren und der Meinungen freien Lauf lässt, ist er nicht angekränkelt. Im Gegenteil: Da ein soziale Ungleichheiten ignorierendes Freiheitsverständnis für das soziale Elend mitverantwortlich sei, bedürfe ökonomische Macht einer politischen, das Wohlergehen der Menschen bedenkenden Legitimation. Auch argwöhnt er, dass diejenigen, die Demokratie auf ein Regieren mittels Diskussionen und Parlamentswahlen reduzieren, sich darauf verlassen, dass die Mächtigen mächtig genug sind, die Diskutanten wieder zum Schweigen bringen zu können.
Wer Antworten auf die Fragen nach dem Wesen und den Bedingungen vollkommen gerechter Gesellschaften oder auch nur eine allgemein akzeptable Gerechtigkeitsdefinition sucht, wird hier nicht fündig werden. Die Welt ist für Sen nicht eine sich verwirklichender Ideale. Seine praktische Vernunft begnügt sich damit, die tatsächlichen Versuche zur Verminderung von Ungerechtigkeiten in Vergangenheit und Gegenwart zu beurteilen, um für die Zukunft gewappnet zu sein. Man sollte solche Bemühungen nicht hochnäsig als Mangel an metaphysischem Theorievermögen verwerfen. Werden doch hier die Argumente eines Für und Wider auf einen Prüfstand gestellt, auf dem nur ein praxisorientierter Vernunftgebrauch zählt. Denn Sen versteht unter Demokratie vor allem den öffentlichen Vernunftgebrauch von Demokraten. Situationsgerechtigkeiten, mehr noch: Situationsungerechtigkeiten sind sein Thema, nicht eine hochgestochene Gerechtigkeitstheorie.
Was leidende, ungerecht behandelte Menschen auf die Barrikaden bringt, sei von unmittelbarem Interesse für die Diagnose von Ungerechtigkeit. Einem Gefühl für Ungerechtigkeit müsse man nachgehen, selbst wenn es sich herausstellen sollte, dass es auf einem Irrtum beruht. Ungerechtigkeiten seien oft genug durch soziale Barrieren befestigt, die wiederum auf Klassenunterschieden, Geschlechterungleichheiten, religiös begründeten Schranken beruhen. Ungerechtigkeiten festzustellen, müsse als Spielraum für »aufrührerische Ideen« als Vorspiel zu einer kritischen Überprüfung tatsachlicher Verhältnisse wahrgenommen werden. Enttäuschungen, Wut und Empörung sollten nicht Ersatz für Vernunftgebrauch, sondern Beweggrund für argumentierende Kritik und Vorstufen eines Widerstands gegen Ungerechtigkeiten sein.
Die Doppelfunktion von Empörung und Vernunftgebrauch impliziere allerdings nicht, dass wir erwarten dürfen, einander widersprechende Gründe in Einklang zu bringen und uns auf eine gemeinsame Position zu einigen. Eine allseits befriedigende Problemlösung sei weder eine Forderung an die Rationalität einer Person noch eine Bedingung für vernünftige kollektive Entscheidungen einschließlich einer auf Vernunft gegründeten Theorie der Gerechtigkeit.
Mit einem Wort: Gerechtigkeit gehört zu dem Einfachen, das schwer zu machen ist. Mit Gerechtigkeitsphrasen löst man keine Probleme. Auch wenn sie in Parteiprogrammen stehen.
Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit. C. H. Beck, München. 493 S., geb., 29,95 €.
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