Heimweh nach Böhmen

Was an Berlin nervt

  • Heinz Kersten
  • Lesedauer: 2 Min.

Bei jeder Berlinale erfasst mich nach kurzer Zeit etwas wie Heimweh nach Karlovy Vary und Locarno. Nicht wegen der angenehmeren Temperaturen, mit denen beide A-Festival-Konkurrenten punkten können. Für das Wetter ist die Berlinale schließlich nicht verantwortlich, und in diesem Jahr muss man wenigstens nicht über vereiste Wege schlittern.

Nein, worin sich das tschechische und Schweizer Kinoereignis so angenehm von unserem heimischen Event unterscheiden, ist die lockere und unangestrengte Atmosphäre, die Flexibilität, die dort gerade auch die Arbeit des Filmkritikers erleichtert. Keine unfreundlichen Zerberusse, die dem gestressten Festivalchronisten, wenn er sich bei engem Terminplan aus gutem Grunde einmal um fünf Minuten verspätet, mit preußischer Sturheit den Zutritt in Vorführsäle verwehren. »Das ist uns verboten«, wird einem in Berlin mit obrigkeitshöriger Strenge beschieden.

Dass es auch anders geht, ist im großen Kinosaal des böhmischen Festivalzentrums, des Thermal-Hotels, zu erleben. Dort sammeln sich vor Beginn der Vorführungen junge Leute an den Eingängen, die keine Karten mehr erhalten haben, und werden nach dem Einlass der Karteninhaber noch hereingelassen und dürfen auch auf den Stufen des Saales lagern. Geschadet hat das noch keinem.

In Berlin ist immer wieder die Geduld der für 60 Euro Akkreditierten zu bewundern. Ein Beispiel: Um 15.30 Uhr ist eine Pressevorführung angesetzt, auf deren Einlass bereits eine halbe Stunde zuvor ein Pulk von Journalisten vor dem Kinoeingang wartet und sich die Beine in den Bauch steht, manchmal auch quasi in den des von der Menge bedrängten Nachbarn. 15.45 Uhr ist es endlich soweit. Hat man Glück, entschuldigt sich sogar jemand vom Personal und verweist auf eine zusätzliche Vorführung in einem anderen Kino. Unvermeidliche Organisationsmängel im 61.(!) Jahr der Berlinale?

Zaghafte Proteste lassen manchmal den Wunsch nach mehr Heftigkeit aufkeinem, Vorbild: der Kairoer Tahrir-Platz. Freilich: ohne Rufe wie »Kosslick muss weg!«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -