Die Kunst der Wahlanalyse
Parteizentralen lesen Botschaft des Souveräns
Das Besondere an der Hamburger Wahl sieht Dora Heyenn darin, dass alle Parteien ihre Überraschung erlebt haben. Überraschend war die Höhe des SPD-Ergebnisses ebenso wie die Tiefe des Falls der CDU, die Enttäuschung der Grünen ebenso wie der Einzug der FDP in die Bürgerschaft. Das meiste Staunen beim Blick auf die Wahlergebnisse scheint bei der Hamburger LINKEN aber wohl doch das eigene Ergebnis hervorzurufen. Heyenn erinnerte gemeinsam mit Herbert Schulz, Landesvorsitzender der Partei, an anfängliche Zweifel auch in den eigenen Reihen: Wird die LINKE überhaupt den Wiedereinzug schaffen? Jetzt, nachdem das erreicht ist, findet man wieder selbstbewusste Worte. Der Bundesvorsitzende Klaus Ernst sieht in der Wahl vor allem einen Auftrag an seine Partei – dies sicher mit Blick darauf, dass diese vor allem in jenen Teilen Hamburgs mit überdurchschnittlich hohem Anteil von Arbeitslosen und auch von Migranten gewählt worden ist.
Landesvorsitzender Schulz spricht zugleich von einem Wermutstropfen: 5000 Wählerstimmen hat die LINKE verloren, vornehmlich an die »Partei« der Nichtwähler. Nur dank der Abnahme der Wählerzahlen insgesamt schaffte die LINKE mit 6,4 Prozent das gleiche Ergebnis wie 2008. Eine konsequente Opposition werde man sein, verspricht Heyenn. Denn sie glaube Scholz die Bekenntnisse zur sozialen Gerechtigkeit nicht, die er aus dem Programm der LINKEN abgeschrieben habe, um sein wirtschaftsliberales Konzept zu aufzuhübschen.
Die SPD behandelte Wahlsieger Olaf Scholz am Montag hingegen als eine Art Glücksbringer. Jeder Genosse im Berliner Willy-Brandt-Haus schien einen kleinen ansteckenden Blick erhaschen, eine Berührung ergattern zu wollen. Scholz ist die Verheißung einer erfolgreichen SPD. Auf den ersten Blick. Beim zweiten verraten alle Analysen, dass die Hamburger abseits des Bundestrends gewählt haben. Und dass die Höhe des SPD-Ergebnisses auch mit der Schwäche der CDU zu tun hat.
Zu allem Überfluss raunt der Berliner Politikbetrieb, dass SPD-Parteichef Sigmar Gabriel eine rot-grüne Regierung gar lieber gewesen als der totale Erfolg. Denn das hätte dann doch einen Hauch von Bundessignal ergeben. So überreichte Gabriel dem künftigen Ministerpräsidenten den Blumenstrauß mit eher sparsamen Begleitworten. Und Scholz vergalt es mit der ungebetenen Verabreichung seiner Hamburger Rezeptur an den bundespolitischen Patienten: Die SPD brauche mehr Wirtschaftskompetenz mit einem Schuss sozialem Zusammenhalt. Dann klappt's auch mit dem Wahlsieg. Aus dem Munde eines Architekten der Agenda 2010 klingt dies zumindest für die LINKE wie eine Drohung.
Wenig Bedrohliches geht im Moment von der Hamburger CDU aus. Sie ist nach zehn Jahren Regierung auf eine Oppositionsrolle in der Bürgerschaft zurückgeworfen und ist vollauf damit beschäftigt, ihre Erklärungen nicht allzu halbseiden klingen zu lassen. Mit 21,9 Prozent ist sie auf das schwächste Ergebnis seit Kriegsende in der Hansestadt gestürzt – eine Halbierung zudem des Ergebnisses von 2008.
CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel war am Montag vor allem böse auf die Grünen. Keine Zusammenarbeit auf Bundesebene, und auch in den Ländern seien Koalitionen »nach den Vorgängen in Hamburg nicht einfacher geworden«. Die Grünen, die die Koalition im letzten Jahr hatten platzen lassen, sehen sich ebenfalls um den Lohn ihres selbstbewussten Absprungs gebracht. Gefasst sahen sie am Montag der Wahrheit ins Auge. Nur Wahlergebnisse zählten, nicht Umfragen, so Parteichef Cem Özdemir. In Umfragen waren die Grünen auf 15 bis 20 Prozent taxiert worden – mit 11,2 Prozent landeten sie nun deutlich darunter.
Siehe auch: Wahlstatistik
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