Der Durchlauferhitzer
Das Festival »100° Berlin« bündelt Inszenierungen des Freien Theaters
So viele Anmeldungen wie nie zuvor hatten die Veranstalter für das diesjährige »Lange Wochenende des freien Theaters«. Die 8. Ausgabe jenes Vier-Tage-Marathons zeigt täglich ab 16 Uhr insgesamt fast 130 Produktionen und zudem zahlreiche Installationen. In den Sophiensaelen und den drei Spielstätten des Hebbel am Ufer werden sogar neue, über verschlungene Gänge erreichbare Orte erschlossen.
Messe, Markt, Diskussionsforum, Party ist »100° Berlin«, verspricht wie ein Durchlauferhitzer stete Siedehitze, wenn Theaterstücke, Performances, Aktionen, Musik, Live-Art im Stundentakt wechseln. Ungewöhnlich: Keine Kuratoren grenzen ein, ordnen die Beiträge fixen Themen zu. Genre, Medium und darstellerische Mittel liegen ganz in der Hand der Teilnehmer. Eine Fachjury wählt am Ende die fünf besten Inszenierungen aus. Sie gehen wie üblich in den Spielbetrieb der ausrichtenden Häuser über und reisen diesmal zudem ins polnische Szczecin. Dort laufen sie im Teatr Kana, das 1979 als Studententheater gegründet wurde und seit 1984 in eigenem Haus Theaterprojekte, Festivals, Workshops organisiert. Dass in Berlin die beliebten zwei Publikumspreise vergeben werden, gehört ebenso zum »100°«-Procedere.
Bemerkenswert ist erneut die Spannweite der behandelten Themen. Wenn Klassiker gezeigt werden, darf man mit sehr heutiger Interpretation rechnen. So verlegen Schwalm, Bechert & Nickl ihr einstündiges Stück nach Edward Albees »Zoogeschichte« vom New Yorker Central Park in den Volkspark Friedrichshain und montieren lokale Interviews ein.
Das Ensemble T.A.T. greift für »Die Schweigsame« auf ein Gedicht von Paul Celan zurück, für zwei Stücke ist R. D. Brinkmann der Ausgangspunkt. »Parallele Räume in Maß für Maß« nach Shakespeare schickt Lady Angela auf die Straße und projiziert diese Szenen auf die Bühne; Rahel und Ruben Häseler schicken »Macbeth« ins Rennen. Das Theater im Kino adaptiert Goethes »Clavigo«, Keth / Hahns »Der gute König Ödipus« greift auf Sophokles zurück. Inspirationsquell für moderne Inszenierungen waren auch Roland Barthes’ »Reich der Zeichen«, Carlos Fuentes’ Novelle »Aura«, Genets »Zofen«, Büchners »Woyzeck«, Pinters »Request Stop«, Hitchcocks »Psycho«.
Nahe liegt jungen Theatermachern die Gestaltung der eigenen Probleme und Gedanken. So fragt die Theaterwerkstatt Göttingen in »Happy Hour – Ein Klassenzimmerstück«, wie Felix volltrunken in den Park gerät, obwohl Mira sich mit ihm glücklich wähnte. In Anna Peschkes »Käppkkra« kämpft ein Ich mit seiner Angst: Figuren, Puppen, Maschinen sind auf der Bühne. Borch / Weber leben in der Tanzperformance »as we meet often« eine Beziehung aus; in »Högelsund« vom Berliner Zimmer verwirren sich einem Romanautor Realität und Fiktion; Georg Bütows Gangsterstück »Augenlicht« erzählt von Terry, der aus dem Berliner Knast kommt und mit einem Coup die Familie retten möchte.
In Heiko Josefs »Selbstmörder« treibt der arbeitslose Podsekalnikow einer unbeabsichtigten Lösung entgegen; Elzbieta Bednarska lässt in dem Solo »Schneeweiß und Russenrot« einen jungen Polen auf sein Feindbild losgehen; in »Heute noch nicht« von Gemeinsam spielen Hörende und Gehörlose Menschen, die am Silvesterabend vom Dach springen wollen. »Illegal – wir sind viele. wir sind da« berichtet von jenen, deren Asylantrag abgelehnt wurde; »SiebenSchläfer« untersucht gesellschaftliche Widersprüche; »Flaschenbrand« thematisiert die Suche Junger nach einem Platz in der Gemeinschaft. Tagebuchaufzeichnungen beschreiben den Lebensweg zweier jüdischer Schwestern, »Hafthaus« arbeitet das Schicksal eines ehemaligen Potsdamer Intendanten auf.
Gesungen, gespielt, fabuliert wird bei »100°«, ob genreübergreifend, ernst oder ironisch.
24.-27.2., Hebbel am Ufer, Tel.: (030)-25 90 04 27, Sophiensaele Tel.: (030)-283 52 66
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