Suche nach etwas Drittem

Das Anti-Sarrazin-Buch »Manifest der Vielen« wurde im Gorki Theater vorgestellt

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.
Schirmt sich gegen Tatsachen gerne ab: Thilo Sarrazin ND-
Schirmt sich gegen Tatsachen gerne ab: Thilo Sarrazin ND-

Wenigstens zwei positive Phänomene hat Thilo Sarrazins provokantes Pamphlet »Deutschland schafft sich ab« ausgelöst: Im vergangenen Herbst durfte man vor allem in Bahnhofsbuchhandlungen erleben, wie bullige, stiernackige und kurz geschorene Menschen ein Buch zur Verkaufstheke balancierten – mit so unsicheren Bewegungen, dass sich der Eindruck aufdrängte, ihre Hände hätten seit langer Zeit keinen Buchdeckel mehr berührt. Auch wenn man den Konsumenten eine Substanz von höherer Qualität gewünscht hätte – Sarrazins Bestseller fungierte hier immerhin als (Wieder-)Einstiegsdroge in die Kulturtechnik des Lesens.

Den zweiten positiven Effekt stellt ein signalrotes Buch mit dem Titel »Deutschland erfindet sich neu« dar. Herausgegeben hat es die Philosophin und laut eigenen Aussagen begeisterte Schafhirtin Hilal Sezgin. Verfasst wurde dieses »Manifest der Vielen«, so der Untertitel, von 30 Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund. Vorgestellt wurde es am Donnerstagabend bei einer Buchpremiere im Gorki Theater – vor einem Publikum, dessen Aufmerksamkeit, dessen Lebens- und Lachlust, aber auch dessen zuweilen hell auflodernde Empörung Erinnerungen an Bürgerversammlungen in den späten 80er und ganz frühen 90er Jahren im Ostteil dieser Stadt weckte.

Zusammengefasst enthalte dieses Buch drei Botschaften, erklärte Herausgeberin Sezgin auf der Bühne: »1. Wir sind hier. 2. Das ist auch gut so. 3. Wir kämpfen für Teilhabe an einem pluralistischen Deutschland.« Diese drei Feststellungen ziehen sich durch sämtliche Beiträge des Buchs.

Der Filmregisseur Neco Celik, einst Mitglied der berüchtigten Jugendgang »36er«, weist in seinem Text darauf hin, dass zumindest am Kotti die »Schwarzköpfe vor den Ossis« da waren. Er schildert, wie sich beide Bevölkerungsgruppen anlässlich der Begrüßungsgeldabholung der DDR-Bürger erstmals begegneten. Sie wollten Geld »von unseren Banken«, erzählt er und berichtet dann von dem Plan seiner Gang, aber auch der »Junkies«, der »schlitzohrigen Obsthändler« und der Besitzer der »Export-Import-Läden, die wie Pilze aus der Erde schossen«, den Ostdeutschen die frisch gedruckten Banknoten wieder abzunehmen.

Celik lädt mit seinem Beitrag zum Nachdenken darüber ein, welche Bevölkerungsgruppe in Deutschland für die weiße, westelbische Mehrheitsgesellschaft der dreisteste »Transfergeldempfänger«, die am schlechtesten integrierte Gruppe oder schlicht der »Nigger der Nation« ist.

Mit seiner düsteren Zukunftsvision über ein von Menschen verlassenes Spandau des Jahres 2048 illustriert Deniz Utlu, dass diese Gesellschaft wegen der erwartbaren Überalterung den Zuzug junger Menschen braucht und dass es eigentlich gut wäre, sie einzuladen. In allen Texte ist aber mehr oder weniger der Wille zu spüren, Raum zu schaffen für eine in vielen Nuancen ausdifferenzierte Debatte um eine gemeinsame Gesellschaft.

Oft ist vor allem die Mehrheitsgesellschaft der Adressat. Etwa bei Mely Kiyak, die den Befreiern der Frauen vom Kopftuch neben und vielleicht sogar anstelle ihres angeblichen Impulses Arroganz, Chauvinismus und herrschaftliche Motive unterstellt. Feridun Zaimoglu fordert die konservative Fraktion der Mehrheitsgesellschaft auf, ihren »Kulturkampf« um eine etwaige Reinheit des Deutschen einzustellen. Kiyak ironisiert diesen Konflikt mit einem Entwurf eines neuen Paragrafen zur deutschen Sprache. »Artikel 22a: Die Sprache der Bundesrepublik ist Deutsch. Artikel 22b: Gemeint ist Hochdeutsch. Von diesem offiziellen Bekenntnis sind Ober-, Mittel, Nieder- und Neudeutsch ausgenommen«, schreibt Kiyak und listet die vom Grundgesetz ausgeschlossenen Dialekte auf.

Einige Autoren wenden sich aber auch den Defiziten der Migranten der ersten Generation, also ihrer Eltern und Großeltern zu. Ekrem Senol kritisiert den Hang zum »Bloß nicht Auffallen« und fordert mehr Selbstbewusstsein. »Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom«, wählt er als Bild, das freilich als Aufforderung für viele gelten kann. Und wieder andere, wie Hilal Seggin, konstatieren Pauschalisierungen auf beiden Seiten.

Der ganze grellrot leuchtende Band drückt das Bekenntnis des Kreuzbergers Neco Celik aus: »Wir sind in diesem Land geboren. Wir sprechen, schreiben und träumen deutsch.« Das ist weiß Gott keine Neuigkeit. Aber man sollte diese Tatsache endlich zur Kenntnis nehmen. Der Ausspruch »Wir müssen uns nicht integrieren« zog während der Buchpremiere über die Bühne des Gorkitheaters. Ihm folgte: »Ich suche nach etwas Drittem, das in allem steckt«. Die Aufforderung zur Suche nach neuen Horizonten sollte gerade in Zeiten angenommen werden, in denen die politische Elite des Landes sich als unfähig erweist, akademische Standards einzuhalten (siehe zu Guttenberg) und Statistiken sachgerecht zu lesen (siehe Sarrazin).

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