Theater-Zapping
Das Festival »100 Grad« ging zu Ende
Der Erfolg war riesig. Es strömten nicht nur all jene, denen freies Theater am Herzen liegt, zum Mammut-Festival »100 Grad«, das letzte Woche in den Sophiensälen und dem Hebbel am Ufer (HAU) stattfand. Es wurde nebenbei sogar noch die Welt gerettet. Mehr darf man von einem Theaterfestival kaum erwarten.
Die Gruppe »machina eX«, die am Ende der vier wilden Tage zu einem der Preisträger gekürt wurde, hatte ein Projekt entwickelt, in dem sieben Zuschauer binnen 30 Minuten Spielzeit nicht nur verhindern müssen, dass eine neuartige Bombe die Erde vernichtet, sondern auch zur Lösung eines Welträtsels aufgefordert sind. Das Rätsel löste nur eine der Gruppen, wie später bekannt wurde. Fast alle aber konnten immerhin die Bombe stoppen. »Ganz schnell war man ins Spiel hineingezogen und entwickelte nach einem ersten scheuen Abtasten mit seinen Mitspielern gemeinsame Strategien«, erzählte die frühere Kuratorin im HAU und aktuelle Leiterin eines Theaterhauses in Basel, Carena Schlewitt. Sie war als Mitternachtssprecherin an ihre alte Arbeitsstätte zurückgekehrt
Wenn man das bürgerliche Theater seit Lessing als ein Selbstvergewisserungs- und auch Selbstaktivierungsinstrument einer Gesellschaftsschicht begreift, dann stellt das Spielformat von »machina eX« eine durchaus sinnvolle Anpassung dieses Instruments an die gegenwärtigen Zustände dar. Die Gruppe nutzte auch die Internet-Plattform startnext.de und sammelte darüber 465 Euro für technisches Equipment ein. Das waren 190 Euro mehr als kalkuliert und ohnehin mehr, als die meisten anderen Teilnehmer von »100 Grad« an externer Finanzierung einbringen konnten.
Keine der über 120 Gruppen erhielt Gagen oder andere Zuschüsse von den Veranstaltern, die über die Bereitstellung von Technik und Spielstätte hinausgingen. Das Festival wird daher auch als extremer Selbstausbeutungsbetrieb kritisiert. Es bietet andererseits aber durchaus sinnvolle Auftrittsmöglichkeiten. »›100 Grad‹ hat in den letzten Jahren schon einige Tourneen ausgelöst. Vor allem kleinere Theaterhäuser in Deutschland oder Goethe-Institute haben nach ihren Sichtungen von ›100 Grad‹ Einladungen ausgesprochen«, beschreibt HAU-Intendant Matthias Lilienthal den Folgenutzen seines Festivals.
Auch über den Publikumszuspruch mit rund 3500 Besuchern in seinem Haus und den Sophiensälen zeigt sich Lilienthal erfreut. Nicht jedem Besucher stand freilich die Euphorie so ins Gesicht gemeißelt wie dem Gastgeber. Falten der Ernüchterung gruben die Macher der Theatersoap »Neuköllnisch Wasser« wegen der hölzernen Spielweise in die Züge ihres Publikums. Auch die konzeptionell ambitionierte Untersuchung der Sprachverstümmelung durch Übersetzungsprogramme wie Google Translate durch die israelische Performerin Hila Golan enttäuschte.
Jedem Tal folgte bei dem Mammut-Zapping zwischen bis zu sieben parallel bespielten Bühnen aber meist ein Hoch. Die aus Internet-Foren herauskompilierte Einsamkeitsstudie »Der Ordner brennt« von Schießbude Nr. 5 gehörte ebenso dazu wie die rasend schnelle Tarzan & Jane-Persiflage »Back to the Jungle« von butterbrot & spiele.
Als Preisträger wurden neben »machina eX« auch die Internetperformerin Brina Stinehelfer, das narrative Tanzduo Anja Müller & Dennis Deter, die tänzerischen Raumerkunder Lina & Martha sowie der vom Zittern zu einer Bewegungsanalyse ausgreifende Tänzer Sebastian Matthias erwählt. Bei der Zusammensetzung der Preisträger fällt auf, dass es Produktionen, die verstärkt auf traditionelle theatrale Mittel setzen, sowohl beim Publikum wie bei der Jury schwer hatten. Dies spiegelt durchaus das echte Theaterleben, das mit etwas höheren öffentlichen Fördermitteln rechnen kann, wider. Als ganz neuer Impuls war immerhin die Verschmelzung von Theater und Gesellschaftsspiel durch »machina eX« hervorzuheben.
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