Bildung als »tote Kosten«

  • Robert Kurz
  • Lesedauer: 3 Min.
»Für den Zustand, der hierzulande als ›Generation Praktikum‹ bezeichnet wird, gibt es in allen Ländern ähnliche Namen.«
»Für den Zustand, der hierzulande als ›Generation Praktikum‹ bezeichnet wird, gibt es in allen Ländern ähnliche Namen.«

Die kapitalistische Produktionsweise ist reich an inneren Selbstwidersprüchen. Dabei macht auch der Bereich Bildung und Ausbildung keine Ausnahme. Wissen an sich produziert keinen Mehrwert, aber es ist eine sachliche Notwendigkeit für das Kapital unter dem Diktat der Produktivkraftentwicklung. Da jeder Aufwand in der Form des Geldes erscheinen muss, handelt es sich beim Bildungssystem im kapitalistischen Sinne um »tote Kosten«, also um einen Abzug vom gesellschaftlichen Mehrwert. Deshalb wird überall im Namen der Standortkonkurrenz die Notwendigkeit von Bildungsinvestitionen beschworen, gleichzeitig aber die Produktion und Verteilung von Wissen unter enormen Kostendruck gesetzt.

Dieser Widerspruch hat sich verschärft. Dieselbe Produktivkraftentwicklung, die jene Expansion von Wissen und Bildung erzwingt, hat den real Mehrwert produzierenden Sektor (insbesondere der industriellen Basis) ausgedünnt, indem dort in wachsendem Ausmaß Arbeitskraft überflüssig gemacht wurde. Während die berühmte »produktive« Arbeiterklasse relativ zurückging und heute eine gesellschaftliche Minderheit bildet, wuchsen spiegelbildlich die großenteils »unproduktiven« neuen Mittelschichten des Bildungs- und Wissenssektors an. Kapitalistisch ließ sich diese Entwicklung nur darstellen als zunehmende Kreditfinanzierung der entsprechenden »toten Kosten« – ein kaum thematisierter Aspekt der allgemeinen Finanzierungskrise.

Die Vermassung der höheren Qualifikationen (in der BRD macht heute etwa die Hälfte eines Jahrgangs Abitur) führt nach den Gesetzen des Arbeitsmarkts zu einer Entwertung der qualifizierten Arbeitskraft. In Verbindung mit dem Kostendruck auf das kapitalistisch »unproduktive« Bildungssystem hat sich daraus eine fortschreitende Prekarisierung auch der akademisch gebildeten Schichten entwickelt. Das alte Bildungsbürgertum ist dem Untergang geweiht. Hinzu kommt die Diskrepanz zwischen der Qualifizierung und den konjunkturellen Anforderungen. Da der gesellschaftliche Zusammenhang keiner gemeinschaftlichen Planung unterliegt, sondern einer blinden Dynamik, werden die einen Qualifikationen plötzlich überflüssig oder zum Überangebot, während die anderen fehlen. Ausbildung geht aber nur langfristig, während die Anforderungsprofile in der globalen Konkurrenz sprunghaft wechseln.

Inzwischen haben wir es weltweit mit derselben Problematik zu tun. Für den Zustand, der hierzulande als »Generation Praktikum« bezeichnet wird und die wahre soziale Schieflage der »Generation Facebook« verdeutlicht, gibt es in allen Ländern ähnliche Namen. Gerade weil das Bildungsgefälle zwischen den kapitalistischen Zentren und der Peripherie teilweise eingeebnet wurde, macht sich die Perspektivlosigkeit der ausgebildeten jungen Generation in den ärmeren Ländern drastisch bemerkbar. Das ist (neben der Explosion der Lebensmittelpreise) einer der Hintergründe für die aktuellen Revolten im arabischen Raum. Aber auch in China oder Indien klaffen Massenqualifizierung und Beschäftigung auseinander.

Es handelt sich nicht um demokratische Defizite, sondern um einen kapitalistisch unlösbaren strukturellen Widerspruch im Verhältnis von Bildung und Ökonomie. Die Frage ist, ob das global vermasste »akademische Proletariat« seine Prekarisierung in die Idee einer neuen sozialen Emanzipation für alle umsetzt, oder ob es sich nur im Kapitalismus behaupten will und die notwendige Enttäuschung ideologisch verarbeitet.

In der wöchentlichen ND-Wirtschaftskolumne erläutern der Philosoph Robert Kurz, der Ökonom Harry Nick, die Wirtschaftsexpertin Christa Luft und der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel Hintergründe aktueller Vorgänge.

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