In Montclair geht die Angst um
In den USA wehren sich Angestellte im Öffentlichen Dienst gegen Arbeitsplatzabbau
»Good morning, habt ihr schon gehört? Sie wollen uns auslagern«, ruft Kathy Baines in ein Autofenster, das sich gerade geöffnet hat. Der Fahrer nimmt das Flugblatt entgegen, das die 51-Jährige ihm entgegenreicht, bedankt sich und erwidert freundlich »Das ist nicht gut für euch, und nicht gut für die Kinder, ihr habt schon recht, dagegen muss man etwas tun.«
Kathy Baines eilt zum nächsten Fahrzeug, aus dem ein Schulkind aussteigt, und überreicht auch dessen Eltern ein Flugblatt. »Stop Outsourcing« steht darauf, darunter ein paar Zahlen und Fakten zur drohenden Privatisierung ihrer Jobs . Kathy Baines ist eine von 30 Hilfslehrerinnen, die morgens um halb neun, eine Viertelstunde vor Schulbeginn, vor der Nishuane-Grundschule zum ersten Mal gewerkschaftlich aktiv werden. Auf ihren weißen T-Shirts steht »Montclair Education Association«. Es ist die gewerkschaftliche Interessenvertretung von mehr als 1000 Beschäftigten im öffentlichen Schulsystem des 35 000 Einwohner zählenden Ortes Montclair, von Lehrern über Sekretärinnen bis zu Hausmeistern.
Sparen an den Hilfskräften
Die 190 Hilfslehrerinnen, die in Voll- oder Teilzeitbeschäftigung die Hauptlehrkräfte in den Klassen unterstützen, haben sich zu ihrer Aktion vor Schulbeginn entschlossen, »weil die Angst umgeht«, sagt Kathy Baines. Denn das örtliche Bildungsamt will an den Hilfskräften sparen und ihr »outsourcing« betreiben. Das hieße, dass Kathy Baines und ihre Kolleginnen entlassen und einer Privatfirma zur Übernahme empfohlen werden würden. Wer tatsächlich den Arbeitgeber wechseln darf, verliert dann allerdings neben den bisher bezahlten Krankheitstagen auch die Kranken- und Rentenversicherung. Die Löhne der Privatfirmen liegen außerdem viel niedriger. Wer abgelehnt wird, sitzt auf der Straße – »für immer und ewig«, befürchtet Baines. Das Arbeitslosengeld sei ein Tropfen auf den heißen Stein, der Jobverlust »so oder so für die meisten von uns eine Katastrophe«.
Seit einigen Wochen ist in den Medien viel die Rede von den großen Protesten in Wisconsin, die sich gegen die Rotstiftpolitik und einen gewerkschaftsfeindlichen Gesetzesentwurf der regierenden Republikaner richten. Auch in Ohio, ebenfalls im Mittleren Westen gelegen, gingen Tausende auf die Straßen. Obwohl in New Jersey eine ähnliche politische Konstellation mit einem rechten Gouverneur herrscht, der Haushaltskürzungen angedroht hat, ist es bislang relativ ruhig geblieben. Vor zwei Wochenenden demonstrierten Feuerwehrleute und Polizisten in Trenton, der Hauptstadt von New Jersey. Aber es handelt sich »möglicherweise um die ersten Vorboten des Sturms«, meint Kathy Baines. Die Hilfslehrerin nennt die Nachbarorte Bloomfield, Cedar Grove und Livingston, in denen das »outsourcing« bereits vollzogen wurde. Die Leute seien »stinksauer«, so Baines. Einige hätten ihre bescheidenen Häuschen auf den Markt werfen und in kleine Mietwohnungen umziehen müssen. Zwei Bekannte beziehen seit einem Monat die berüchtigten Lebensmittelmarken.
Lebensmittelmarken gegen den Hunger
Ohne diese »food stamps« wäre in den USA bereits eine Hungersnot ausgebrochen. Laut neuen Daten des Washingtoner Landwirtschaftsministeriums stieg die Zahl der Bezieher im Dezember 2010 erneut, zum 26. Mal in Folge, und auf mehr als 44 Millionen an. Das war fast eine halbe Million mehr als im Vormonat und fünf Millionen mehr als im selben Monat im Jahr davor. Im Jahr 2010 betrug die staatliche Nahrungsmittelhilfe, die Verwaltungskosten nicht eingerechnet, fast 67 Milliarden Dollar. Dabei liegt die Dunkelziffer derer, die aus Scham oder Nichtwissen keine Marken für Nahrungsmittel beantragen, vermutlich weitaus höher.
In den Massenmedien tauchen solche schockierenden Zahlen allerdings nur auf den hinteren Seiten in einem Absatz in der Mitte versteckt auf. Stattdessen bestimmen immer wieder nach oben bereinigte und geschönte Statistiken die Titelseiten und die Schlagzeilen. Dazu zählen nicht nur die abstrakten Zahlen der Aktienkurse, die sich langsam wieder nach oben bewegen. Auch die Berichte vom Arbeitsmarkt geben die wirkliche Wirtschaftslage nur auffrisiert wieder. Anfang März hieß es beispielsweise, die »Erholung auf dem Arbeitsmarkt geht weiter«. Die Arbeitslosenquote sei auf den niedrigsten Stand seit April 2009 gesunken. Als Grundlage diente der USA-Arbeitsmarktbericht für Februar 2011, in dem von 192 000 neu geschaffenen Jobs die Rede ist. Doch laut Bericht betrugen die abgebauten Arbeitsplätze seit Rezessionsbeginn im Dezember 2007 nach wie vor 7,5 Millionen. Der Prozentsatz der Langzeitarbeitslosen an der Gesamtarbeitslosigkeit beträgt beispielsweise 44 Prozent.
Auf der »Main Street« – dem Synonym für das einfache »working class«-Amerika – hält offenbar die Armut Einzug, während die Mittelklasse immer mehr schrumpft. US-amerikanische Mittelschichtsangehörige behelfen sich zur Krisenbewältigung dabei erstmals seit der Depressionszeit wieder durch tiefe Griffe ins Ersparte, um ihren Lebensstandard wenigstens halbwegs halten zu können. Jüngst veröffentlichte Zahlen der »Federal Reserve« zeigen, dass die US-Amerikaner von September 2008 bis September 2010 die gigantische Summe von 311 Milliarden Dollar aus Ersparnissen und Aktien »flüssig« machten. Entsprechend dünn werden gleichzeitig aber die Polster, die in Notfällen zur Geltung gebracht werden müssten. Nur ein Drittel der Bevölkerung hat einer Umfrage zufolge genügend Mittel auf der Seite, um bei Jobverlust oder Arbeitsunfähigkeit drei weitere Monate zu überstehen. Fast ein Drittel der Bevölkerung lebt offenbar von der Hand in den Mund. An der »Wall Street« herrscht dagegen eitel Sonnenschein, als habe es eine Krise nie gegeben. Die Hedgefonds schöpfen Milliardengewinne ab, die Banker der oberen Etagen erhalten Bonuszahlungen in zweistelliger Millionenhöhe.
Kaum Erfahrung mit Arbeitskämpfen
Wie es für Kathy Baines und ihre Kolleginnen weitergeht, weiß keine so recht. Zunächst einmal werden sie versuchen, ihr Anliegen in der Öffentlichkeit, und zu allererst den Eltern, bekannt zu machen. Offenbar ist der Erfahrungsschatz bei solchen Mobilisierungen nicht allzu groß, wie Baines gerne zugibt. Bisher habe sich die »Montclair Education Association« immer auf ihr gutes Verhältnis zum Arbeitgeber verlassen können. Die Gewerkschaftsarbeit habe sich auf Verwaltung beschränkt, und »dazwischen alle zwei Jahre auf ein bisschen Wahlkampf«. Man habe zum Beispiel vergessen, den Elternbeirat über die Flugblattaktion zu informieren und um eine Unterstützerklärung zu bitten. »Aber das kommt alles noch«, sagt sie, um Optimismus bemüht.
In zwei Wochen soll auf jeden Fall erneut eine Viertelstunde vor Schulbeginn Aufmerksamkeit erregt werden, »in größerem Ausmaß, vor allen Schulen in Montclair«.
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