Der Makel ist nicht groß
Eisschnellläuferin Claudia Pechstein findet bei den Inzeller Weltmeisterschaften zu alter Form und in die Normalität zurück
Claudia Pechstein saß ganz allein auf einem Stuhl im Inneren des Inzeller Eislaufrings und beobachtete auf der großen Leinwand, wie eine Gegnerin nach der anderen ihre Zeit über 5000 Meter nicht unterbieten konnte. 5000 Zuschauer um sie herum beobachteten nur sie. »Als ich merkte, dass es für Bronze reicht, hab ich mir die ganze Situation noch mal durch den Kopf gehen lassen: Ich bin bei der WM. Da wollte ich hin. Und jetzt habe ich sogar die Medaille. Wahnsinn!«, beschrieb die Eisschnellläuferin die Situation. Claudia Pechstein ist nach zwei Jahren Dopingsperre wieder da, wo sie vorher war. Vorläufiger Höhepunkt eines eindrucksvollen Comebacks.
Eine halbe Stunde später brach der Gedanke an die Eltern endgültig alle Schleusen. »Ich glaube, sie sind sehr stolz auf mich«, sagte Pechstein, begann zu weinen und suchte Halt im Arm ihres Freundes Matthias Große. Die Anspannung, die sich zwei Jahre lang angestaut hatte, wurde endlich gelöst.
Unter Dauerbeobachtung
In den Tagen vor dieser »schönsten Bronzemedaille meines Lebens« war Pechstein stets in Begleitung: von Große und mindestens drei Kamerateams. Jeder Schritt beobachtet, jede Geste fotografiert, jeder Blick interpretiert. Daran hat sich Pechstein längst gewöhnt, doch sie ging nun anders damit um. Sie hat ihr Lächeln wieder entdeckt. Ihre Lockerheit wirkt natürlicher als noch vor ein paar Monaten, als sie nur mit Pressekonferenzen auf ihren obskuren Dopingfall aufmerksam machen konnte.
Claudia Pechstein ist immer noch die erfolgreichste deutsche Wintersportlerin bei Olympischen Spielen, mit 23 Medaillen ist sie nun auch die beste WM-Athletin. Sie ist zwar auch immer noch Reizperson, doch mit jedem Schritt auf dem Eis juckt es weniger, bei Pechstein und ihrem Umfeld aus Freunden und Feinden, Managern und Medien.
Die fünfmalige Olympiasiegerin wurde in Inzell wieder zur Normalität. Nicht nur die Eisschnelllaufwelt gewöhnte sich an sie, auch Pechstein gewann merklich wieder Vertrauen in diesen Zirkus, der einmal ihr ganzes Leben ausmachte, bevor er sie ausschloss. Zu hohe Retikulozytenwerte im Blut hatten den Weltverband ISU veranlasst, sie zu sperren. Ohne positiven Dopingtest und entgegen der Expertenmeinung von vielen Hämatologen, die Pechstein eine Blutanomalie bescheinigten und so medizinisch freisprachen. Die Sperre ist abgelaufen, und Pechstein läuft wieder – mit einem Makel, der so groß wie von ihr befürchtet gar nicht zu sein scheint.
Ihr Freund wich in Inzell nie von Pechsteins Seite. Er führte sie mit Abschiedskuss aufs Eis und malte am Bahnrand mit den Fingern Herzen in die Luft. Es wirkte kitschig, doch es schien zu helfen. »Mit Matthias bin ich eine andere Claudia«, sagte sie. »Die letzten zwei Jahre waren sehr schwer, es liefen viele Tränen. Zum Glück habe ich mit ihm jemanden gefunden, der mich täglich wieder aufgebaut hat.«
Die Berlinerin spaltet trotzdem noch das Metier: Eine Gruppe glaubt an ihre Unschuld. Die zweite weiß nicht, was sie glauben soll, und behandelt sie wie zuvor. Die dritte meint, dass die Doperin Pechstein keinen Platz mehr auf dem Eis verdiene. Die letzte Gruppe ist in der klaren Minderheit, auch wenn Pechstein in den vergangenen Monaten die Angst umhertrieb. Pfiffe gab es keine in Inzell, doch die Stimmung kann nicht an alte Zeiten anknüpfen. Fairer Applaus, mehr nicht.
Viel wurde über das gespannte Verhältnis zwischen Pechstein und ihrer sportlichen Nachfolgerin Stephanie Beckert aus Erfurt geschrieben. Dabei ging unter, dass die deutsche Mannschaft in der Mehrzahl auf Pechsteins Seite steht. »Ich glaube nicht, dass sie gedopt hat«, sagte etwa ihr Berliner Kollege Samuel Schwarz. »Wenn man jetzt hört, dass noch viele andere Athleten zu hohe Werte aufweisen, zeigt das doch, dass es jeden treffen kann. Wer weiß, ob ich auch zu hohe Werte habe. Die ISU sagt es mir ja nicht«, weigerte sich Schwarz, Pechstein zu verurteilen
Wieder Teil der Mannschaft
Kollege Nico Ihle pflichtete bei. »Sie war der Sündenbock. Offenbar haben viele Sportler die gleichen Probleme, doch sie musste dafür herhalten«, so der Chemnitzer Sprinter. Kurz zuvor hatte ihm Pechstein Trost für seinen verpatzten 1000-Meter-Lauf gespendet. »Dann eben über die 500 Meter!«, so Pechstein, die sich sichtlich bemühte, wieder Teil der Mannschaft zu werden – sogar stärker als vor der Sperre, als sie lange mit den Norwegern trainiert hatte.
Mit Beckert und Isabell Ost gewann sie am Sonntag im Team nochmals Bronze. So wurde Beckert mit drei Medaillen erfolgreichste deutsche Athletin in Inzell, trotzdem bekam sie nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit Pechsteins.
Das Thema Doping holte die Berlinerin auch in Inzell schnell ein. Seit Ablauf ihrer Sperre vor etwa einem Monat wurde immer wieder ihr Blut kontrolliert. »Ich bin jetzt bei fast jedem Rennen mehrfach getestet worden. Hier in Inzell sind mir vier Röhrchen abgenommen worden. Mit intelligenten Dopingtests hat das nichts mehr zu tun. Ich leide jetzt fast an Blutarmut«, beklagte sich Pechstein.
Sie hatte selbst Testresultate veröffentlichen lassen, die erneut hohe Retikulozytenwerte vor der WM nachwiesen. Früher wäre sie dafür gesperrt worden. Doch in Inzell sagte ISU-Präsident Ottavio Cinquanta plötzlich, dass Pechstein nichts mehr zu befürchten habe. Das passt nicht mit der bisherigen Verfahrensweise zusammen, doch es spart Zeit, Geld und Nerven.
Zumindest für vier Tage verdrängte Pechstein die Gedanken an ihre Blutwerte. »Viele größere Probleme von früher sind jetzt kleinere. Meine Aufgabe war es, gut zu trainieren, um bei der WM fit zu sein.« Die Aufgabe hat Pechstein erledigt. Irgendwie sollte es auch die einzige einer Sportlerin sein.
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