»Erneuerbare können Kernkraft ersetzen«
Interview mit Steve Sawyer, Generalsekretär des Windenergierates
ND: Sind die Reaktionen gegen die Kernkraft vorübergehende Gefühlsausbrüche oder werden sie den Weg zu den erneuerbaren Energien beschleunigen?
Sawyer: Heute sind sicherlich sehr starke Gefühle im Spiel. Die Videos explodierender Kernkraftwerke erinnern uns an die Diskussionen über Kernkraft in den 70er und 80er Jahren. Sie erinnern an Three Mile Island (Ort eines Reaktorunfalls in den USA 1979) und an das Leck in der Wiederaufbereitungsanlage Rokkasho in Japan. Was jetzt in Japan passiert, wird Monate, Jahre und schließlich tausende von Jahren dauern. Denn die Kernkraft produziert einen Abfall, der unsere Gesundheit und die Umwelt schädigt.
Die Leute neigen dazu, dies zu verdrängen, weil sie sich an das nahegelegene Kernkraftwerk gewöhnt haben.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gesagt, dass der Übergang zu den erneuerbaren Energien beschleunigt werden muss. Glauben Sie, dass diesen Worten Taten folgen werden?
Es ist klar, dass die große Mehrheit der Deutschen nicht viel von der Laufzeitverlängerung gehalten hat. Frau Merkel hat dafür einen politischen Preis gezahlt. Das wird einen Langzeiteffekt in Deutschland haben. Anderswo ist es noch zu früh, um Schlüsse zu ziehen. Die EU setzt sich derzeit Ziele für 2030. Im Rahmen einer Konferenz der Europäischen Windenergievereinigung wird es eine Debatte über das Ziel der EU geben, den Stromsektor bis 2050 emissionsfrei zu machen. Aber vergessen wir nicht: In Bezug auf Energiepolitik ist 2020 praktisch der kommende Nachmittag, 2030 ist morgen und 2050 nächste Woche. Unsere Entscheidungen heute haben langfristige Wirkungen.
Kann Windenergie die Kernkraft in den nächsten zwei Jahrzehnten ersetzen?
Ja und nein. Das technische Potential ist da. In Deutschland wird es möglich sein, die Kernkraft zwischen 2020 und 2030 auslaufen zu lassen. Aber es geht nicht darum, eine Energiequelle durch eine andere zu ersetzen. Jedes Land muss seine Energie aus verschiedenen Quellen beziehen. Immer mehr europäische Länder werden Teil eines integrierten Strommarktes. In Dänemark, Schweden und den anderen nordischen Ländern hat die Windkraft einen hohen Anteil, weil die Netze untereinander gut miteinander verbunden sind und weil es einen funktionierenden Markt für erneuerbare Energien gibt. Die zentrale Frage ist die Zusammensetzung des Strommixes.
Sind die Netze bereit, soviel Windstrom aufzunehmen?
Die Technologien dafür sind da. Aber ihre Umsetzung unterscheidet sich stark von Land zu Land. Spanien und Portugal produzieren 17 Prozent ihres Stroms aus Wind. Damit kommen sie an eine Grenze, weil sie »Energieinseln« sind. Dort kann die Windkraft erst weiterwachsen, wenn sie eine stabile Anbindung an das europäische Netz haben.
Gibt es genügend Speicherkapazität?
In einem funktionierenden Strommarkt und bei einem starken Netz, das Wind- und Sonnenstrom aufnimmt und von Irland bis St. Petersburg reicht, braucht es nur geringe Speicherkapazitäten. Das Gleiche gilt, wenn ein Stromsystem zu 100 Prozent auf erneuerbaren Quellen beruht und dabei eine kluge Mischung zwischen intelligenten Netzen, Sonnenenergie und Energie aus Biomasse in den Gebäuden selbst aufweist. Wenn diese Quellen so nahe wie möglich am Verbrauch liegen, dann verringert dies die Verluste durch den Energietransport.
Wie wollen Sie den öffentlichen Widerstand überwinden?
Am Ende ist es eine Frage der politischen Entscheidung, und diese Entscheidungen sollten auf nationalem Niveau getroffen werden. Die Herangehensweise unterscheidet sich von Land zu Land. Spanien hat sich für die Windenergie entschieden, weil es auf wirtschaftliches Wachstum, auf die Entwicklung ländlicher Gebiete und auf die Unabhängigkeit der Energieversorgung gesetzt hat. Dabei hat es auch in Spanien stets wortstarke Gegner gehabt. Wir müssen akzeptieren, dass nicht immer jedermann vollständig zufrieden sein wird.
Fragen: Elana Caro
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