Noch lange nicht aufgearbeitet
Bundesärztekammer veröffentlichte Forschungsbericht zu NS-Verbrechen deutscher Mediziner
Die deutschen Ärzte tun Buße. Beinahe 66 Jahre nach Kriegsende lud die Bundesärztekammer am Mittwochabend zu einer Gedenkveranstaltung ins Berliner »Centrum Judaicum« – der Stiftung Neue Synagoge Berlin. Gedacht wurde der Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns, erinnert an die Verstrickung deutscher Ärzte in die Verbrechen der Nazis. Zudem verlieh die Ärztekammer zum dritten Mal ihren Forschungspreis zur »Rolle der Ärzteschaft in der Zeit des Nationalsozialismus«.
Bereits am Mittag hatte Bundesärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe im Berliner Presseclub den Forschungsbericht »Medizin und Nationalsozialismus« vorgestellt. Hoppe bedauerte, dass es »eine wirkliche Auseinandersetzung mit den von den Ärzten begangenen Verbrechen« bis weit in die 70er Jahre nicht gab. Auch heute sei die Rolle der Ärzteschaft bei weitem nicht aufgearbeitet. Deshalb habe man den Forschungsbericht in Auftrag gegeben.
Unter Leitung des Historikers Robert Jütte hatte eine unabhängige Expertenkommission einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zusammengetragen. Jütte betonte während der Präsentation am Mittwoch, dass es seit mehr als 30 Jahren »sehr intensive Forschungen zu diesem Bereich« gebe. Dabei sei mittlerweile soviel Material zusammengekommen, »das der Überblick schwer ist«, so Jütte. Und eben diesen Überblick soll das Mittwoch vorgestellte Buch »Medizin und Nationalsozialismus« geben. Als relativ gut erforscht gelten die Themenkomplexe Eugenik, Euthanasie, Krankenmord und die »Humanexperimente« in deutschen Konzentrationslagern. Weniger bekannt ist über das Schicksal jener 18 jüdischen Krankenhäuser, die es in der Weimarer Republik gab. Auch über die Versorgung älterer Menschen hinter der Front weiß man noch relativ wenig, musste Jütte eingestehen.
Wohl keine andere Berufsgruppe habe ihre NS-Vergangenheit so genau beleuchtet wie die deutschen Ärzte, erklärte der Historiker. Allerdings war auch kaum eine Berufsgruppe so sehr in die Verbrechen der Nazis verstrickt. Jütte konnte mit einigen interessanten Zahlen aufwarten: So waren 1937 etwa 45 Prozent aller Ärzte Mitglied der NSDAP. Wobei die Forschungen der letzten Jahre darauf hindeuteten, dass die Zahlen in den einzelnen Regionen sogar noch höher waren, wie Jütte betonte. Im katholischen Rheinland etwa besaßen gar 56 Prozent aller Mediziner ein Parteibuch. Zum Vergleich: In der als systemnah geltenden Lehrerschaft betrug die Quote laut Jütte gerade einmal 25 Prozent.
Doch woher rührte die Begeisterung der Mediziner? Ganz einfach: Die Ärzte profitierten von der nationalsozialistischen Politik. So entzogen die Nazis den jüdischen Ärzten zuerst die Kassenzulassung und später auch die Approbation. Von den 52 000 Ärzten im Jahr 1933 galten immerhin 8000 nach Nazi-Kriterien als Juden. Diese Ausschaltung der Konkurrenz war vielen Ärzte hochwillkommen. Und manch ein Mediziner übernahm die gut gehende Praxis seines jüdischen Berufskollegen zum Schnäppchenpreis. Zudem erfüllten die Nazis den Medizinern 1935 ihren lange gehegten Wunsch nach einer Reichsärzteordnung, die ihnen viele Privilegien sicherte.
Oftmals half Geld, die moralischen Bedenken der Ärzte auszuschalten. So hatten die Nazis anfangs Schwierigkeiten, Mediziner zu finden, die bereit waren, Zwangssterilisationen vorzunehmen. Als jedoch ein Vergütungssystem für diese Maßnahmen eingeführt wurde, waren plötzlich viele Ärzte bereit, den Eid des Hippokrates zu verraten.
Den Tiefpunkt ärztlicher Verstrickungen bildeten die Massenmorde an psychisch Kranken, Behinderten und die sogenannten Humanexperimente an KZ-Häftlingen. Egal ob Hungerversuche in Mauthausen oder bewusst herbeigeführte Unterkühlung in Dachau: Die meisten der Probanden starben einen grausamen Tod. Weil sich in den Nürnberger Ärzteprozessen von 1946 und 1947 keine Zeugen mehr fanden, die gegen die sadistischen Mediziner aussagen konnten, mussten die meisten auf freien Fuß gesetzt werden.
Ihr einzigartiges Wissen war im Kalten Krieg heiß begehrt. Im Rahmen der »Operation Paperclip« brachte man viele der »Experten« in die USA. Erst in den 80er Jahren, so Jütte, habe auch in den Staaten eine Diskussion darüber eingesetzt, »ob man die interessanten Ergebnisse weiterverwenden« dürfe. Bis dahin habe man einfach verschleiert, woher die detaillierten Erkenntnisse über Erfrierungen oder Hungerödeme stammten.
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