Verfall eines Umgetriebenen
Die Brotfabrik ehrt Michail Bulgakow mit seinem Kammerspiel »Sucht«
Die Dekoration für ihre Inszenierung in der Brotfabrik hat sie auf ein Minimum beschränkt, die russische, einer Theaterfamilie entstammende Regisseurin Inga Lizengevic. Erinnern will sie hier an den 120. Geburtstag von Michail Bulgakow, der 1916 sein Medizinstudium in der Heimatstadt Kiew vorzeitig abbrach und als Arzt aufs Land ging, der unablässig umzog, drei Ehen verschliss, ehe er, knapp 49, starb. In seiner Berufung als Romancier und Dramatiker blieb ihm Erfolg zu Lebzeiten versagt, hatte doch Stalin Anstoß an einem Stück genommen. Verbote waren die Konsequenz, dann eine vom »großen Führer« lancierte Anstellung als Regisseur, die ihn nicht erfüllte. Die Erfahrungen als Landmediziner verarbeitete Bulgakow 1926/27 in den »Aufzeichnungen eines jungen Arztes«, die einzeln in einer Fachzeitschrift veröffentlicht wurden. Autobiografisch ist deren längste, »Morphium«.
So nüchtern und sachlich wie dort geht es im Stück freilich nicht zu. Hier ist Doktor Poljakow vor einer zerbrochenen Liebe aus der Stadt aufs Dorf geflohen, in die Weite des russischen Winters. Einsamkeit glaubt er zu brauchen, behandelt 100 Patienten am Tag, genießt nachts die Freuden des Morphiums: immer dann, wenn die Sängerin der Amneris wieder an sein Ohr pocht. Dann kommen die Verzweiflungsattacken, die er betäuben muss. Schamlos nutzt er dazu die Dienste der einsamen Anna aus, Hebamme in jener Walachei und ihm, dem Besonderen, zugetan. Ihr schmeichelt er die Droge ab, kann mit ihr befreit Blindekuh spielen, auch ziemlich rabiat werden, wenn sie ihm eine kleinere Dosis mixen will. Die Tasche, Bewahrort seines »Gottes«, der Kristalle, ist heiß umkämpftes Requisit; als der Stoff ausgeht, zieht Anna, Bulgakows erster Gattin nachempfunden, im tiefsten Schnee von Apotheke zu Apotheke, um Nachschub zu holen, bis man allerorts Verdacht schöpft, nichts mehr geben will.
Zwei Verlorene treffen da aufeinander, sie in ihrer Zuneigung zu ihm, er ans Morphium und die Frau voll selbstloser Hilfe. Aus dem Moskauer Entzug flieht er, mit der gestohlenen Droge im Gepäck, beschreibt Anna entschuldigend minuziös die Phasen nach der Einnahme, Glück, Schmerz, Finsternis. Gedächtnisschwund, Halluzination, Bewusstseinstrübung als Folgen hält sie warnend dagegen. Es dauert, bis Poljakow, bislang ständig abwiegelnd, seine Ausweglosigkeit eingestehen kann. Da hat er bereits eine Todesvision erlebt und leidet unter Erbrechen, hat ihn Anna verlassen, glaubt er dennoch, genesen zu können, bis Amneris wieder einfällt. Knapp 70 Minuten dauert der Exzess zwischen Hoffnung und Depression, in dem Aida für die Liebe, Amneris für ihre Vereitlerin steht. Die Callas singt, wenn Nervenentzündung Poljakows Raum rötet. Mehr noch gibt den inneren Zuständen Sebastian Deufel mit Klang aus vielfältiger Instrumentalquelle live Ausdruck. Die Orte des Geschehens markiert einzig Licht. Darin steht Eckart Schönbeck unerbittlich allein mit dem Wort, jung, frisch, glatt, und muss durch differenziertes Spiel erreichen, was sein Äußeres nicht unterstützt: den Zerfall von Persönlichkeit. Margot Binder, auch sie jung wie die wahre Tatjana, ist ihm dabei um Nuancen bemühte Stichwortgeberin.
25., 26.3., 19.-22.5., Brotfabrik, Caligariplatz 1, Mitte Kartentel. 471 40 01, Infos im Netz unter: www.brotfabrik-berlin.de. Außerdem im ACUD vom 28.-30.4., www.acud.de
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.