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Unbehaustheit
Wojciech Kuczok: Polnische »Lethargie«
Der polnische Schriftsteller Wojciech Kuczok schreibt so, dass man schnell in die Geschichte hineingezogen wird. Lange, ruhelose Sätze tragen den Leser von Seite zu Seite. Und das, obwohl Kuczoks Roman nicht nur »Lethargie« heißt, sondern auch davon handelt. Von Menschen, wie dem schwulen Adam, der sich nach seinem Medizinstudium unglücklich in einen jungen Patienten verliebt. Von Rosa, der Gattin eines reichen Bankdirektors, die zwar schön ist, aber von ihrem Mann betrogen wird und unter Narkolepsie leidet, einer Krankheit, bei der man ganz plötzlich einschläft. Und von Robert, dem einst erfolgreichen Schriftsteller, der schon seit Jahren keinen Roman mehr geschrieben hat und deswegen von seiner Frau und seinem Schwiegervater bedrängt wird. Kurz, die Gestalten in diesem Buch befinden sich in einer Sackgasse.
Adam ist vielleicht noch derjenige, der am offensivsten mit seinen Problemen umgeht. Er ist zwar in mancher Hinsicht ein übersensibler Mensch. Aber er lässt sich nicht in eine heterosexuellen Zukunft zwingen, die die Eltern für ihn in seinem Heimatdorf vorgesehen haben, und zieht in die Stadt. Nur ist dann sein junger Patient, der mit einem Knochenbruch ins Krankenhaus eingeliefert wurde, zunächst gar nicht an ihm interessiert. Er ist sich seines Schwulseins nicht bewusst. Fr die Gang, mit der er sich rumtreibt, klaut und Breakdance übt, wäre das auch das Allerletzte.
Schlimm sieht es auch mit Robert aus, dem Schriftsteller. Sein Schwiegervater hat ihm einen ruhigen Posten im Stadtarchiv besorgt. Aber statt dass er dort seinen nächsten Roman verfasst, sieht er den Frauen, die an seinem Souterrain-Fenster vorbeigehen, unter die Röcke. Zudem befürchtet er, dass er Krebs hat. Und auch für Rosa sieht es trostlos aus. Ihr Mann hatte sie geheiratet, weil sie als Model sein Ansehen steigert mit ihrem riesigen Foto, das überall in der Stadt an den Plakatwänden hängt. Obwohl sie ahnt, dass ihr Mann sie betrügt, schafft sie es nicht, sich von ihm zu trennen. »Rosa weiß, dass es nichts Deprimierenderes für einen Menschen gibt, als sich daran zu gewöhnen, nicht geliebt zu werden.«
Im Grunde geht es allen Gestalten in »Lethargie« so. Rosas Psychiater meint, »dass der Mensch eigentlich nur in einem anderen Menschen richtig wohnen kann ..., dass Depression nichts anderes ist als Unbehaustheit, an Depressionen leiden Menschen, die niemanden haben, in dem sie wohnen können.« Dieser Mensch aber fehlt allen. Wenn sich das dann am Ende des Buches ändert, wenn die »handelnden« Personen endlich handeln und die Lethargie hinter sich lassen, ist das allerdings kein ungebrochenes Happy End. Dazu war ihr vorheriges Leben zu schwierig.
Robert sagt, er könne ehrlich nur Bücher über das Leiden schreiben. Vielleicht sagt er das stellvertretend für den Autor Wojciech Kuczok, dessen ruhelose Schreibweise wie ein langer sublimierter Schmerz wirkt. Seine Figuren sind sympathisch, der Leser leidet mit ihnen und folgt interessiert ihren Versuchen, den Depressionen zu entfliehen. Irgendwann dann aber stellt sich das Gefühl ein, dass Kuczoks Romanpersonal nicht frei von Klischees ist, unter seinen Möglichkeiten bleibt.
Wojciech Kuczok: Lethargie.. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag. 252 S., geb., 19,90 €.
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