Bescheidenheit und Geltungsbedarf

Drei Museen feiern 172 Jahre Leipziger Fotografie

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 5 Min.
Evelyn Richter: Leipzig um 1976; Silbergelatine Museum der bildenden Künste Leipzig
Evelyn Richter: Leipzig um 1976; Silbergelatine Museum der bildenden Künste Leipzig

Da ist man mal richtig froh, wenn ein ganz und gar unrundes Zählwerk ohne Jubiläumsrang dennoch zum resümierenden Feiern Anlass gibt. Schließlich gibt es Dinge, die jederzeit abrufbar sein sollten. So wird hier zum Glück ein Gemeinschaftswerk inszeniert, das drei museal programmierte Häuser auf ein Thema einschwört, das ganz selbstverständlich ins öffentliche Bewusstsein gehört. Sachsen ist schließlich mit der Entwicklung der Fototechnik (beispielsweise Zeiss Ikon Dresden) und der Ausbildung junger Fototalente (insbesondere an der Kunstakademie Leipzig) die Wiege des neuen Mediums in Deutschland schlechthin gewesen. Damit wurde die Metropole an der Pleiße nach Musikzentrum und Buchstadt hervorragender Standort der Fotografie.

Doch nicht nur regional ist dieses Ausstellungsprojekt recht aufschlussreich. Das nunmehr mitten in den Künsten etablierte Medium Fotografie besinnt sich mehr und mehr auf seine Wurzeln. Da fällt, bei näherer Betrachtung, die enorme Bescheidenheit der frühen Fotografen auf. Nicht nur ihre technische Ausstattung war ganz schlicht. Ihr Anspruchsdenken war, verglichen mit dem Geltungsbedarf der Fotostars von heute, recht gemessen. Sie bildeten ab, was ist – kaum mehr.

Faszinierend zu beobachten, wie die Ausdrucksfähigkeit ihrer Fotos ganz allmählich wuchs. Man sieht hier hunderte Ablichtungen im nun einmal gegebenen strengen Rechteckformat. In wohlabgewogenen Schwarz-Weiß-Abstufungen entwickelt sich mit Komposition ganz organisch Abstraktion. Neuerdings wird mit der Freiheit des Formates und unendlicher technischer Raffinesse so etwas daraus wie Kunst.

Der historisch fundierte Rundgang beginnt im Grassimuseum mit der Zeit von 1839 bis 1918. Klein hat alles angefangen. Die versilberten winzigen Kupferplatten brachten die Romantik der braunen Bildchen in ihren Medaillons hervor. Heute ist das Nostalgie pur. Oder doch eher Abglanz von flinkem Unternehmungsgeist? Bertha Wehnert (vorher Beckmann) holt sofort nach deren Erfindung die neue Technik aus Paris nach Leipzig. Sie kann mit eigenen Fotoateliers schon 1849 nach New York und 1860 nach Wien expandieren. Eduard Wehnert, Hermann Krone, Nicola Perscheid und vor allem Hermann Walter dokumentieren beizeiten das Gesicht sowohl der Zeitgenossen als auch der sich verändernden Stadtlandschaft. Feststehende Motive strahlen Ruhe und Zuversicht aus.

1914 begründet der eingebürgerte Amerikaner Frank Eugene Smith als erster Foto-Professor die Lehrtätigkeit an der »Akademie für Graphik und Buchgewerbe«. Adolf Sander ist als »Innungsobermeister der Photographeninnung« bereits 1918 in der Lage, dem Kunstgewerbemuseum eine einzigartige Sammlung tausender der allerbesten Glasnegative aus achtzig Jahren zu stiften.

Die weitere Entdeckung des neuen Genres durfte das Stadtgeschichtliche Museum vollziehen. Im Entree garantiert die exakte chronologische Abfolge das »Atelier Hermann Walter« mit Fotos vom Neubau eben jenes Grassimuseums von 1925, das der Rundgänger gerade verlassen hat. Die 20er Jahre dokumentieren so solide Fotografenmeister wie Eduard Krämer oder Georg Tschäpitz mit dem Blick aufs Stadtgeschehen. Die Selbstbildnisse von Marianne Brandt und Hajo Rose markieren Schritte zum künstlerischen Sehen. Der quer über das Jahr 1945 in Leipzig als Fotoprofessor an der Akademie wirkende Münchner Johannes Widmann hatte erst heile, dann zertrümmerte Welt abzulichten. »Unbekannte« waren mit der Kamera einem »Führer« auf der Spur, dessen Visage hier fehl am Platz zu sein scheint. Die Leica-Erkundungen des Schlossers Fritz Böhlemann zum Leben und Kämpfen Leipziger Arbeiter um 1930 im Kellergeschoss jedenfalls sind als Zeitdokument ergiebiger. (Übrigens: Im Kontext einer ganz unpolitisch lokalchronistisch gesehenen Fotografentätigkeit für die Illustrierten-Presse der 20er Jahre sei Johannes Mühler genannt, dem jetzt das kleine Fotomuseum Leipzig Mölkau seine sehenswerte Sonderausstellung widmet.)

Der Aufbruch der Nachkriegsjahre bringt die Namen einer Generation hervor, die mit Renate und Roger Rössing, K. Heinz Müller und Wolfgang G. Schröter noch bis in unsere Zeit hinein wirkt. Alle vier gingen aus Widmanns Akademieförderung hervor. Schröter richtete unter ihm das erste Farbfilmlabor für »Fotografik« in der »Hochschule für Grafik und Buchkunst« ein. Er beweist selbst Meisterschaft in den hier ausgestellten, farbig kühn erfassten Fechterszenen. Diese leiten über in den großen Hauptteil der Ausstellung – nicht zufällig nebenan im Museum der bildenden Künste platziert. Dort sorgt für den größten magischen Farbakzent des Ganzen mit »Roter Bunker« wiederum ein Schröter: Es ist kein anderer als der nunmehr Wege in die Abstraktion suchende Sohn Erasmus.

Man wünschte sich, der nominell für alle drei Ausstellungsteile verantwortliche Chefkurator Christoph Tannert hätte solcherart Kontinuität der Entwicklung in diesen Räumen weiterhin deutlich gemacht. Aber weit gefehlt: Stattdessen bietet er für die Jahre seit 1960 bis heute plötzlich einen indifferenten Mix – als ob seine Kamera mal hier-, mal dahin schwenkt. Was Karin Wieckhorst in den 60ern oder Peter Langner in den 70ern aufnahmen (und vor allem wie), ist eben nicht beliebig auswechselbar mit dem, was später kam. Schließlich: Wie im brisanten sozialen Umfeld der Mangelwirtschaft mit den Hochschullehrern Evelyn Richter und Arno Fischer die letzte große Blüte einer totgesagten Schwarz-Weiß-Fotografie zustande kam – welche Leistung! Wie Karin Plessing triste Industriestraßen und Gerhard Weber karge Wohnzimmer ins Bild bringt, da weht Geschichte. Wieso entsteht gerade da Fotokunst? Tannert bringt in seiner Unfähigkeit, gültige Wertungen zu finden, gleich daneben mit Steffen Mühle und Christoph Sandig die Ästhetik pur der Gegenwart ins Spiel.

Von einer in historischen Abschnitten strukturierten Übersicht darf man erwarten, dass sie mit Akzenten der Hängung und Kommentierung auf Entwicklungen hinweist. Zu Günter Rösslers nach wie vor sensationellen stilllebenhaften Akten bleibt nur die Andeutung eines kleinen nackten Rückens. Die siebziger Jahre waren die große Zeit der echten Individualitäten: Der Erkunder der Psyche von DDR-Intellektuellen, Christian Borchert, wird mit acht, der surreale Experimentator Joachim Jansong sogar mit zwölf Beispielen gezeigt. Gut – aber erschließt sich beim Sammelsurium drum herum ein historischer Kontext? Der nach 1990 aus großer weiter Westwelt gekommene Timm Rautert hatte dann als Leipziger Hochschullehrer an das Erbe der Ausbildungsstätte angeknüpft – inzwischen ist er längst schnöde eliminiert.

Effektvoll erscheinen, oft mit formal brillantem Blendwerk, Astrid Klein mit »Zukunftswährung« und Nadin Maria Rütenacht mit »le Jardin des Plantes«. Die Blauhimmelvisionen der Vogelflüge von Frank Mädler, Andreas Wünschirs Variationen zur »Wolfsschanze« oder gar »Beauty tools« von Esther Hoyer steigern die Kunstbedeutung ihrer Schöpfer mit jedem Quadratmeter. Gratulation!

LEIPZIG. FOTOGRAFIE seit 1839, bis 15. Mai. GRASSI Museum für Angewandte Kunst, Johannisplatz 5-11; Stadtgeschichtliches Museum, Böttchergässchen 3; Museum der bildenden Künste, Katharinenstraße 10. Alle drei Di-So 10-18 Uhr. Kamera- und Fotomuseum Mölkau, Gottschalkstraße 9 Mi, Sa, So 13-17 Uhr

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