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Déformations professionnelles

Über die Sucht, Notizen zu machen

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Es ist wichtig, am Schreibtisch liegen zu können – mit dem Rücken zum Fenster (das hier ist übrigens das Arbeitszimmer von Theodor Heuss).
Es ist wichtig, am Schreibtisch liegen zu können – mit dem Rücken zum Fenster (das hier ist übrigens das Arbeitszimmer von Theodor Heuss).

Eine Déformation professionnelle ist eine durch einen Beruf herbeigeführte Eigenschaft, die auf die häufige Wiederholung einer Tätigkeit zurückzuführen ist. Dieser Begriff bezeichnet die Neigung, die fachliche Expertise auch über ihren Geltungsbereich hinaus anzuwenden. Beispiele für eine Déformation professionnelle sind Lehrer*innen, die auch privat dozieren und korrigieren, ein*e Polizist*in, die auch außer Dienst überall Gesetzesbrecher*innen sieht, oder ein*e Musiker*in, die nicht mehr mit Genuss Musik hören kann, weil sie nicht anders kann, als sie fachlich zu analysieren. Auch tatsächliche Déformations professionnelles sind zu verzeichnen: Der sogenannte »Geiger*innenfleck«, der fast einem Knutschfleck gleicht.

Ein Knutschfleck ist ein besseres Accessoire als der Schal, der ihn verdecken könnte. Auch für einen Besuch in der Philharmonie oder in der Oper eignet er sich gut – das Gefühl leichten Voyeurismus auslösend, bleibt er, über Jahrhunderte hinweg, ein echter Hingucker, immer in Fashion.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. Alle Texte auf dasnd.de/hohmann.

Ich bin regelrecht süchtig danach, Notizen zu machen. Es ist ein echtes Problem. Ich bleibe stehen, halte inne, mitten auf der Fahrbahn, nur um etwas zu notieren. Nicht selten werde ich dabei fast von einem Auto erfasst. Wenn ich einen Gedanken vergesse, bin ich den ganzen Tag schlecht gelaunt. Manchmal auch noch den nächsten. Oft kommen die Gedanken spätnachts, im Halbschlaf. Mehrmals stehe ich nachts auf und mache Notizen, hindere mich dabei selbst am Einschlafen. Immer kommen sie mir essenziell vor. Nicht immer kann ich sie am nächsten Morgen entziffern.

Eine Freundin besteht darauf, dass ich aufhöre, Notizen zu machen von den Dingen, die sie sagt. Ich verstehe, warum sie sich das wünscht, gleichzeitig fällt es mir seitdem schwer, Zeit mit ihr zu verbringen. Indem ich sie, schreibend, zur Protagonistin mache, nehme ich uns die Unmittelbarkeit, die Intimität. Ich mache sie zur Persona, statt sie Person sein zu lassen. Eine performative Technik der Distanznahme, ich halte einen Sicherheitsabstand. Nun habe ich eine letzte Notiz gemacht – der sogar diese Veröffentlichung folgte: Von ihr als jener, die nicht genannt werden möchte.

Schreiben ist Machtausübung: Man behält, man erkämpft, er-schreibt sich immerhin die Hoheit über das eigene Narrativ – ein Trostmechanismus ebenso wie ein Fluch, den man gegen sich selbst ausübt. Das hilft vor allem, wenn es sich um traurige Geschichten handelt, die man sich dann, schreibend, wieder aneignet.

Das Ganze kann aber manische Züge bekommen: In der Notizfunktion meines iPhones befinden sich fast 1000 Titel für Romane oder Kurzgeschichten, die ich vermutlich nie schreiben werde. Eine ständige, ständig wachsende Vergegenwärtigung der eigenen Endlichkeit. Ich gehe davon aus, dass Texte, die vom Schreiben handeln, wahnsinnig langweilig sein müssen. Immer wieder merke ich aber: Es sind die emotionalsten von allen.

Neuerdings versuche ich, am Schreibtisch zu arbeiten und nicht mehr im Bett. Es gelingt mir selten. Man sagt: Schon Napoleon hat vom Bett aus regiert. Und auch Truman Capote sagte über sich selbst: »I am a completely horizontal author. I can’t think unless I’m lying down, either in bed or stretched on a couch and with a cigarette and coffee handy.« Auch Edith Wharton soll ausschließlich im Bett gearbeitet haben, mit ihrem Schoßhund unter dem Arm und der Schreibmaschine auf dem Schoß. Marcel Proust schrieb nachts im Bett – in dem er dann tagsüber schlief und sich vor den Straßengeräuschen von Paris durch verbarrikadierte Fenster abschirmte.

Ich selbst schreibe ausschließlich mit dem Rücken zum Fenster – der Horizont irritiert mich. Je limitierter die Reize, desto besser. Ich versuche, den Raum so leer wie möglich zu halten, denn ich gehe davon aus, dass die Anwesenheit jedes einzelnen Gegenstandes eine Auswirkung auf den Text haben wird.

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