Die gute Nachricht: König wird Orbán nicht
Ungarns neues Grundgesetz hebelt demokratische Mechanismen aus
Der Konsens war, wie immer in der neuen ungarischen Gesetzgebung, ausnehmend breit: Die Mitte-Links-Opposition hatte den ganzen Prozess der Verfassungsgebung boykottiert und am Montag gar nicht abgestimmt, die Rechtsradikalen stimmten dagegen. Also sprach die Regierungskoalition unter Führung von Orbáns Partei Fidesz mit ihrer Zweidrittelmehrheit alleine im Namen des Volkes. Eine Volksabstimmung hat Orbán als überflüssig abgelehnt. Schon in einer seiner ersten Erklärungen als Ministerpräsident stellte er fest, dass öffentliche Debatten zu nichts führen und »im 21. Jahrhundert zu nichts nutze« seien.
In der Art eines Diktators wird Orbán das Dokument am 25. April, dem ersten Jahrestag seines »historischen Wahlsieges«, vom Staatspräsidenten unterzeichnen lassen. Es heißt fortan Grundgesetz, nicht mehr Verfassung, das Land nicht mehr »Republik Ungarn«, sondern einfach »Ungarn«. Begriffe wie Republik, Demokratie und andere einem Machthaber lästige Wörter sind aus dem Text weitgehend verbannt. Dafür wimmelt es von nationalem und religiösem Schwulst (ND berichtete in seiner gestrigen Ausgabe). Die Sehnsucht nach Großungarn ist unverkennbar, Spannungen mit den Nachbarn sind programmiert.
Wertvorstellungen mit handfesten materiellen Folgerungen werden ab sofort in den Rang oberster Rechtsvorschriften erhoben. So sind »volljährige Kinder verpflichtet, ihre bedürftigen Eltern zu versorgen«, wird die Ehe als »freiwillige Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau« definiert und damit die amtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften ein für allemal von der Tagesordnung verbannt.
Ein direktes Abtreibungsverbot riskierte Fidesz trotz Drängens seiner erzkonservativen christdemokratischen Juniorpartner nicht. Allerdings ist in Artikel II sehr wohl über den Schutz des Fötus ab der Empfängnis zu lesen. Ein Abtreibungsverbot bleibt damit dem Gutdünken des in seiner Unabhängigkeit stark eingeschränkten Verfassungsgerichts überlassen. Das darf künftig die Verfassungsmäßigkeit der wichtigsten wirtschaftlichen Entscheidungen – zum Staatshaushalt, zu Steuern, Gebühren, Beiträgen, Zöllen – gar nicht mehr prüfen. Was ihm bleibt, ist ein Prüfungsrecht in den Bereichen Recht auf Leben, Menschenwürde, Religionsfreiheit und ähnliches. Die tatsächlich lebenslange Haftstrafe wird wieder eingeführt, die Autonomie der Universitäten in finanziellen Belangen eingeschränkt.
Auch andere Mechanismen demokratischer Kontrolle werden ausgehebelt. Zum Beispiel konnte sich bislang jeder Parlamentarier mit Beschwerden an das Verfassungsgericht wenden. Jetzt sind nur noch Sammelbeschwerden möglich, die von einem Viertel der Abgeordneten eingebracht werden müssen. Dazu wird es im jetzigen Parlament nicht kommen, weil Sozialisten und Grüne mit der rechtsradikalen Jobbik-Partei kaum gemeinsame Sache machen werden.
Ein anderes Beispiel ist die Verlängerung des Mandats für Inhaber wichtiger Ämter. So können Orbán und seine Gefolgschaft diese Positionen selbst nach einem eventuellen Regierungswechsel kontrollieren. Sollte etwa der Staatspräsident, ein folgsamer Parteisoldat Orbáns, kurz vor den Parlamentswahlen 2014 abtreten, müsste das neue Parlament bis 2019 mit dessen Nachfolger zusammenarbeiten. Das Verfassungsgericht wählt seinen Präsidenten nicht mehr selbst. Diese Befugnis geht aufs Parlament über, und das wählt Verfassungsrichter ab sofort für zwölf Jahre. Der Oberste Staatsanwalt wird nicht mehr für sechs, sondern für neun Jahre bestellt. Um ihn abzulösen bedarf es einer Zweidrittelmehrheit im Parlament, was dem derzeitigen Orbán-Mann praktisch eine Amtszeit bis zum 70. Lebensjahr garantiert.
Die Amtsdauer des Nationalbankpräsidenten wird in gleicher Weise verlängert, so dass nach dem Ausscheiden des derzeitigen obersten Finanzwächters 2013 ein von Orbán ernannter Nachfolger bis 2022 an die Spitze der Zentralbank gelangen wird. Der von Fidesz ernannte Rechnungshofpräsident kann den Interessen seines Chefs ebenfalls bis 2022 dienen.
Auch der Vorsitzende des sogenannten Haushaltsrats, der in Haushaltsangelegenheiten ein Vetorecht hat, wird mit langer Frist durch den Staatspräsidenten berufen. Die Vetorechtsbestimmung ist wichtiger, als auf den ersten Blick zu vermuten wäre. Im neuen Grundgesetz steht: »Der Staatspräsident kann das Parlament auflösen, falls der Staatshaushalt für das gegebene Jahr bis zum 31. März durch das Parlament nicht angenommen wird.« Das heißt, dass der Staatspräsident und der Haushaltsrat gemeinsam und ohne Beiziehung anderer Akteure problemlos Regierungen stürzen können.
Die Verfassung endet so: »Es möge Frieden, Freiheit und Einverständnis herrschen!« Wer die Verfassungsgebung verfolgt hat, kann den frommen Wunsch gelinde gesagt nicht als ehrlich empfinden: Erstens wurde die Notwendigkeit einer neuen Verfassung nie bewiesen. Behauptet wurde lediglich, dass die derzeitige Verfassung, am 20. August 1989 verkündet, eine »stalinistische« sei. Zweitens machte das Eiltempo beim Basteln der neuen Verfassung jede eigentliche Debatte unmöglich. Die Arbeit fand hinter verschlossenen Türen statt. Drittens handelt es sich um das Werk einer einzigen Partei, die die Pflicht zur Suche nach Konsens willkürlich außer Kraft gesetzt hat. Viertens wurden Meinungen der juristischen Fachwelt außer Acht gelassen. Fünftens schickte man statt einer gesellschaftlichen Debatte in letzter Minute einen Alibibrief mit zehn allgemein gehaltenen Fragen an jeden Haushalt. Die Rücklaufquote lag bei 10 Prozent, und schon aus Zeitmangel konnten selbst diese Fragebögen unmöglich ausgewertet werden.
Es gibt übrigens auch zwei gute Nachrichten: Ein ungarisches Königreich, von dessen bevorstehender Ausrufung während der geheimen Vorbereitungsarbeiten gemunkelt wurde, wird am 25. April nicht errichtet. Außerdem wurden die Verfassungsmacher noch rechtzeitig darauf hingewiesen, dass das auf Seite 4 des Jahrtausendwerks abgebildete Faksimile der ungarischen Nationalhymne diesen Stolz des Landes nicht in der vom Komponisten Ferenc Erkel geschriebenen Originaltonart wiedergibt, nämlich nicht in B-, sondern in Es-Dur. Doch auch wenn in der Endfassung auf das Notenbeispiel verzichtet werden sollte: Ungarns neue Verfassung bleibt ein grauenhafter Misston, für kritische Geister ebenso wie für die EU.
Keine Stunde nach der Verabschiedung am Montag meldete sich eine bisher wenig bekannte Zivilorganisation beim Landeswahlbüro. Die Organisation 4K! (Vierte Republik) verlangt einen Volksentscheid zu der Frage: »Sind Sie einverstanden damit, dass das Parlament die am 18. April 2011 angenommene Rechtsregel mit dem Titel ›Grundgesetz Ungarns‹ außer Kraft setzt?« Das Landeswahlbüro ist allerdings längst ausschließlich mit Fidesz-Leuten besetzt. Und das neue Grundgesetz enthält eine Bestimmung, nach der über dessen Modifizierung keine Volksabstimmung abgehalten werden darf.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.