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Viel erreicht, aber ...
Wolfgang Ruges Lenin-Biografie berichtet über die Tragödie eines großen Revolutionärs«
Mit dem Eintritt in die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts begannen sich die Historiker mit der Frage zu beschäftigen, welche Ursachen zu dem so schnellen Zerfall der Sowjetunion und dem Untergang des Sowjetsystems führten, Dabei richteten sie verstärkt ihre Aufmerksamkeit auf die ersten Jahre der Sowjetherrschaft und die Frage, ob es eine Kontinuität von Lenin bis zur Herrschaft Stalins gab. Mit anderen Worten: Schuf Lenin das politische System, das Stalin hervorbrachte und seine Verbrechen ermöglichte?
In Russland und den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks bröckelte derweil der Lenin-Kult. Zwar liegt sein einbalsamierter Leichnam noch immer im Mausoleum auf dem Moskauer Roten Platz. Aber nach einer 2009 in Russland veranstalteten Umfrage verringert sich seine Popularität kontinuierlich. Der Anteil derjenigen, die für Lenin Sympathie empfinden, war auf 42 Prozent gesunken. Etwa ein Drittel der Befragten gab an, eine negative Einstellung zu Lenin zu haben. Dabei spielten sicher Emotionen eine erhebliche Rolle. Der Historiker hingegen soll emotionslos, sine ira et studio (ohne Zorn und Eifer), urteilen, nur den historischen Quellen, das heißt der historischen Wahrheit verpflichtet.
Wolfgang Ruge, um dessen Buch es hier geht, hätte allen Grund gehabt, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Als 16-Jähriger musste er nach der Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland in die Sowjetunion emigrieren, wo er nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die UdSSR als Deportierter in ein stalinistisches Straflager im Nordural geriet. In seinen 2003 erschienenen Erinnerungen »Berlin – Moskau – Sosswa« hat er darüber in geradezu bedrückender Weise berichtet (vgl. ND vom 4./5. Oktober 2003). Doch es war nicht die Geschichte Russlands, sondern die Deutschlands, der er sich nach seiner Rückkehr in die DDR 1956 als Mitarbeiter des Instituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften, zweifellos aus wohlverstandenem Grund, zuwandte. Davon zeugt eine Reihe wichtiger Publikationen.
Doch ließ ihm offenbar auch die Frage, wie es zum Niedergang und letztlichen Zusammenbruch des sowjetischen Regimes kommen konnte, keine Ruhe. Verwiesen sei besonders auf sein 1991 veröffentlichtes Buch »Stalinismus – eine Sackgasse der Geschichte«. Als Historiker, der sich der Kausalitätskette in der Geschichte bewusst ist, musste er aber weiter in die Vergangenheit zurückblicken, um das Phänomen des Stalinismus zu erfassen. Als Wolfgang Ruge am 26. Dezember 2006 starb, hinterließ er ein umfangreiches Manuskript über Lenin. Offensichtlich hat er sich damit das, was ihn, bewusst oder unbewusst, seit Jahrzehnten beschäftigte und bedrückte, gleichsam von der Seele geschrieben.
Sein Sohn Eugen Ruge, studierter Mathematiker, sowie Wladislaw Hedeler, hervorgetreten durch zahleiche Publikationen über die sowjetische Geschichte, haben nun dieses Manuskript veröffentlicht. Eugen Ruge schrieb dazu ein Vorwort, und Wladislaw Hedeler überprüfte und redigierte den Text. Dieser entstand, wie Eugen Ruge vermerkt, im Gedankenaustausch mit einer Freundin von Wolfgang Ruge. Sie nutzte den Text zum Teil für ihre Vorlesungen an der Berliner Freien Universität.
Wolfgang Ruge hat unter profunder Kenntnis der Quellen und Literatur und mit großer Dichte den umfangreichen Stoff von der Geburt Wladimir Iljitsch Uljanows am 22. April 1870 – er wurde bald unter dem Pseudonym Lenin bekannt – bis zu seinem Tod am 21. Januar 1924 mit einem Ausblick auf Lenins Staat nach Lenin dargelegt. Er zeigt, wie der junge Lenin, als Berufsrevolutionär erfüllt von hohen Idealen, unter Opfern und Entbehrungen seinen Weg zur Befreiung der arbeitenden Klassen nahm und schließlich sein Leben in einer Situation beendete, in der das von ihm errichtete Herrschaftssystem von seinen ursprünglichen Zielen weit entfernt war. »Hiermit trifft Wolfgang Ruge«, so urteilt der Sohn im Vorwort, »die eigentliche Tragik der Figur Lenins und die Tragik der sozialen Revolution überhaupt, die das gesamte linke Denken und die linke Bewegung bis heute überschattet.«
Wolfgang Ruge schildert Lenin als einen Mann, der im 19. Jahrhundert wurzelte, dessen Denken nach der Aneignung des Marxismus nur noch um die Machtfrage kreiste, von hier aus sein Freund-Feind-Denken bestimmte und alles dem Erreichen seiner revolutionären Ziele unterordnete. »Lenins Interesse galt der Revolution und nur der Revolution.« Ruge veranlasst den Leser, sich immer wieder dieser Feststellung zu erinnern, »um sich der Beantwortung der Frage zu nähern, wie es ihm, dem Führer einer kleinen radikalen Gruppe, gelang, sich der Macht in einem Riesenlande zu bemächtigen und – noch unwahrscheinlicher – diese Macht zu behaupten«.
Ruge zeichnet den Weg Lenins und seiner Partei zur Macht bis zum Sieg des Oktoberaufstands 1917 nach. Er schildert, wie Lenin die Partei durch seine Persönlichkeit und Überzeugungskraft auf die Machterringung vorbereitete. Das von ihm in Reden und Schriften entwickelte Programm beurteilt Ruge jedoch als realitätsfern, »als Wunschbild eines Mannes, der nur über höchst unvollkommene Kenntnisse in der Staatsführung, in der Wirtschaftsorganisation und in der Verwaltungstechnik verfügt«. Mit dem Sieg des Oktoberaufstands habe Lenin das Ziel seiner Träume, den Höhepunkt seines Lebens erreicht, der zugleich ein Wendepunkt war. »Vor ihm lag das kontinuierliche Abschmelzen seiner Ideale, der Zugriff des Hungers und des Elends auf den von ihm begründeten Staat, eine unablässige Aufeinanderfolge von Krisen und am Ende sein physischer Verfall, seine Resignation und die Einsamkeit. Als Parteiführer war er unschlagbar, doch als Staatsmann unterlag er der Realität – einer Realität, die er zum Teil selbst geschaffen hatte.«
Ruge bescheinigt Lenin persönliche Genügsamkeit und Bescheidenheit. Für die Partei habe er jedoch die uneingeschränkte Macht verlangt. Ruge zeigt den Weg der Bolschewiki zum staatlichen Einparteiensystem, zu einem Machtkampf, der zum »Hauptinhalt der Politik« wurde und schließlich auch zur Unterordnung der Sowjets unter die Partei führte. Ruge gelingt es, dem Leser die ganze Dramatik jener Jahre nach der bolschewistischen Machterringung vor Augen zu führen.
Vor allem vier große Probleme waren es, denen sich die Bolschewiki gegenübersahen: Erstens blieb die erwartete »Weltrevolution«, für die nach den Hoffnungen der Bolschewiki die Oktoberrevolution die Initialzündung sein sollte, nach wie vor aus. Zweitens hatten die Bolschewiki, abgesehen von den sofort nach dem Oktoberaufstand verabschiedeten beiden Dekrete über den Frieden und über Grund und Boden, kein Rezept für die angestrebte gesellschaftliche Umgestaltung, was Lenin selbst wiederholt bestätigte. Sie mussten erfahren, dass antikapitalistisch nicht automatisch sozialistisch bedeutete, wobei es unklar blieb, was man unter »sozialistisch« zu verstehen hatte und wie die »Diktatur des Proletariats« aussehen sollte.
Drittens erwuchsen den Bolschewiki in dem vorwiegend agrarischen Russland ungeheure Schwierigkeiten. Viertens mussten sie den Widerstand innerer und äußerer Feinde überwinden, wobei ihre Lage durch den beginnenden Bürgerkrieg und die militärische Intervention der Großmächte gewaltig verschärft wurde. Selbst wenn Lenin einen Stab kompetenter Mitarbeiter gehabt hätte, so schlussfolgert Ruge, wäre es ihm höchstwahrscheinlich nicht gelungen, »die ihm vorschwebenden, ihrem Wesen nach eben doch utopischen Aufgaben zu lösen und die ihn immer wieder zurückwerfenden katastrophalen Pannen zu umgehen. So groß das subjektive Unvermögen der neuen Herrscher auch war, so ist doch ihr zunehmend deutlicheres Abirren vom anvisierten Weg vor allem mit objektiven Gegebenheiten zu erklären.«
Lenin habe einerseits, so scheibt Ruge, an die Vernunft appelliert und gehofft, dass die Masse der arbeitenden Menschen seine Politik mittragen würden. Andererseits habe er, dem Freund-Feind-Denken entsprechend, gegenüber dem »Klassenfeind« die Anwendung von Gewalt befürwortet. In den Kapiteln »Lenin und der Terror« und »Im Bürgerkrieg« schildert Ruge die mit diesen Problemen verbundenen Tragödien, die Russland in den Jahren 1918 bis 1921 heimsuchten. Den durch Krieg, Hungersnot, Epidemien und Auswanderung verursachten Aderlass Russlands beziffert er mit bis zu 15 Millionen Toten. Die katastrophale Situation wurde überdies durch die schon 1918 eingeführte Politik des »Kriegskommunismus« verschärft.
Das knapp gehaltene Kapitel über die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik verdeutlicht, wie Lenin unter Schwierigkeiten und Widersprüchen nach einem Ausweg aus der entstandenen kritischen Situation suchte. In den beiden letzten Kapiteln wird Lenin als ein Mann geschildert, der, von Zweifeln an seinem Lebenswerk erfüllt und von Krankheit geplagt, schließlich den Intrigen Stalins zum Opfer fällt. Über Lenin könne gesagt werden, so konstatiert Ruge am Schluss des Buches, »dass er zwar viel erreichte, dass das Erreichte aber ganz und gar nicht dem entsprach, was zu verwirklichen er angetreten war«.
Es ist ein lesenswertes Buch, das Auskunft gibt über einen Abschnitt der Geschichte Russlands, dessen Ereignisse die Welt in Atem hielten, und über Irrwege auf der Suche nach einer gerechten Gesellschaftsordnung. Ob die Wahl des Buchtitels zutreffend ist, erscheint allerdings fraglich. Denn Lenin wurde zwar mit der Schaffung des politischen Systems für Stalin ein Wegbereiter. Jedoch wird mit dem Wort »Vorläufer« zu sehr das Augenmerk auf die Personen gerichtet. Als solche aber waren sie doch sehr verschieden.
Wolfgang Ruge: Lenin – Vorgänger Stalins. Eine politische Biografie. Bearbeitet und mit einem Vorwort von Eugen Ruge. Hg. von Wladislaw Hedeler. Matthes & Seitz, Berlin. 470 S., geb., 29,90 €.
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