Verdrängung der Einwanderer
Im multikulturellen Berlin-Kreuzberg eine günstige Bleibe zu finden, ist schwer geworden – vor allem für Migranten
Sie müssten umziehen, erklärt der Jugendliche, während er durch die Wohnung führt. Die Kartons sind schon gepackt; es sieht ungemütlich aus. Der Neubau mit dem vielen Sichtbeton und den Satellitenschüsseln in der Waldemarstraße ist ohnehin kein Schmuckstück, dafür liegt er aber zentral in dem Teil von Kreuzberg, der früher einmal der Postzustellbezirk 36 war. Die Vier-Raum-Wohnung für knapp eintausend Euro Warmmiete ist noch eines der günstigen Angebote auf dem Markt. Dennoch erzählt der Junge, dessen Eltern aus der Türkei eingewandert sind, dass ihnen ihr Zuhause zu teuer geworden sei. Dabei teilt er sich bereits den Raum mit seinem Bruder, und auch seine beiden Schwestern leben gemeinsam in einem Zimmer.
Zwar schlicht, doch nicht bezahlbar
Wenige Tage später in einem schlichten Altbau in der Glogauer Straße eine ähnliche Begebenheit: Diesmal vermittelt eine Hausverwaltung den Besichtigungstermin. Ein arabischer Teenager führt durch die Zimmer; seine Mutter hält sich zurück, weil sie nur wenig Deutsch spricht. Auch dieser Schüler hat noch nie ein eigenes Zimmer gehabt; Abend für Abend schläft er zusammen mit seinem jüngeren Bruder in einem Raum. Trotzdem kann sich seine Familie die schlichte Wohnung im Erdgeschoss nicht mehr leisten.
Wer in Kreuzberg eine Wohnung sucht und sich im unteren Preissegment orientiert, der erlebt häufig solche Situationen. Auch Kerstin Jahnke vom Quartiersmanagement erfährt in Gesprächen mit Vertretern der umliegenden Schulen und Kitas häufiger vom Wegzug von Einwandererkindern in günstigere Gegenden. Vor allem der Anteil von türkischen Mietern sinke im Wrangelkiez beständig. 1999 habe ihr Anteil an der ausländischen Bevölkerung noch 68 Prozent ausgemacht, zehn Jahre später seien es nur noch 46 Prozent gewesen, sagt Jahnke. Dennoch warnt sie davor, daraus pauschal abzuleiten, dass Migranten aus der Türkei und aus arabischen Ländern die Hauptleidenden der steigenden Mieten in Kreuzberg seien.
Ähnlich äußert sich ihre Kollegin Nicole Bosa vom Quartiersmanagement am Kottbusser Tor. Für eine solche Annahme habe sie keine Zahlenbelege, erklärt sie. Wer arm sei, auf den steige der Mietendruck. Aber daraus abzuleiten, dass türkische oder arabische Einwanderer, die Kreuzberg in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich geprägt haben, davon besonders betroffen seien, das könne sie nicht bestätigen.
Attraktiv wohnen im Szenekiez
Eine solche Aussage verwundert. Denn es ist offenkundig, dass im östlichen Kreuzberg Migranten weitaus häufiger von Armut betroffen sind als Deutsche. Annähernd jeder dritte Einwanderer erhält dort Transferleistungen vom Amt; das sind fast doppelt so viele wie Einheimische, besagt der Berliner Sozialatlas. Der Blick auf die Klingelanlage der ehemals sozial geförderten Wohnanlagen aus den 80er Jahren trügt nicht. Deutsche Nachnamen sind dort die Ausnahme.
Auch in diesen schlichten Neubauten ist das Wohnen deutlich teurer geworden. Der Grund dafür liegt bei einer Senatsentscheidung, wonach seit 2003 die Anschlussförderungen für diese alimentierten Wohnungen auslaufen. »Die Mieten gleichen sich seitdem an die viel höhere Kostenmiete an«, erklärt Reiner Wild vom Berliner Mieterverein.
Recherchen des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg belegen, dass die Mieten für Hartz-IV-Empfänger mittlerweile häufig zu hoch sind. Jede vierte Bedarfsgemeinschaft liegt in diesem Stadtbezirk mit ihrer Miete über den vom Jobcenter übernommenen Kosten der Unterkunft. »Die Differenz bezahlen sie aus ihrem Regelsatz, Ein-Euro-Job, Zuverdienst oder Reserven«, weiß Karin Baumert von der Kampagne gegen Zwangsumzüge. Doch auf Dauer sei das keine Lösung. Ein Umzug wie bei den Familien in der Waldemar- oder Glogauer Straße wird unausweichlich.
Der Senat ging bei seiner Entscheidung, den sozialen Wohnungsbau zu stoppen, damals davon aus, dass es keine Wohnungsnot mehr in Berlin gebe. Schließlich standen vor acht Jahren noch rund 100 000 Wohnungen in der Stadt leer. Doch seitdem hat sich die Situation entscheidend geändert.
Berlin ist in den letzten zehn Jahren beträchtlich gewachsen, die Zahl der Haushalte nahm um 130 000 zu. Dagegen stagniert jedoch der Wohnungsbau – im vergangenen Jahr wurden gerade einmal 3500 neue Wohnungen gebaut –, so dass besonders in den Innenstadtbezirken die Nachfrage nach Wohnraum steigt – und damit steigen auch die Mieten. Selbst einst unattraktive Wohnanlagen sind mittlerweile gefragt. Immobilienhändler werben damit, dass sie »mitten im attraktiven Szenekiez« liegen.
Der Stadtsoziologe Andrej Holm macht an dieser Entwicklung eine neue Facette der Gentrifizierung aus. Eine Verdrängung beschränkt sich demnach nicht mehr nur auf Altbauten, die durch die Sanierung aufgewertet wurden, sondern längst sind davon auch Neubauten in zentraler Lage betroffen.
Rund um den Verkehrsknotenpunkt Kottbusser Tor besitzt die vom Senat privatisierte Immobilienfirma GSW reihenweise ehemals geförderte Wohnblöcke. Leerstand gibt es hier nur wenig. »Hier hat sich viel getan«, meint eine Mitarbeiterin der GSW über ein Haus in der Kottbusser Straße, das sie betreut. Es habe häufige Mieterwechsel gegeben, wodurch die Wohnstruktur heterogener geworden sei, versichert die Frau zufrieden.
Doch vollends geht die Strategie der GSW nicht auf. Noch immer leben in dem sechsstöckigen Haus überwiegend Einwanderer aus der Türkei, und der Blick in den Hinterhof bestätigt die Statistik für diesen Kiez: Vier von fünf Kinder haben einen Migrationshintergrund. Bürgerliche Familien mit einem guten Einkommen bevorzugen eher die ruhigen Seitenstraßen im Kiez mit den sanierten Altbauten.
Das Haus in der Kottbusser Straße zieht vor allem junge Leute in WGs an, die sich in den Maisonette-Appartements einrichten. Clubs und Kneipen befinden sich gleich vor der Haustür. Und von ihrem Balkon haben sie einen Blick auf die urbane Großstadt – mit Hochbahn, HipHop schallt aus vorbeirauschenden Autos, dazu autonome Demonstrationen gegen Gentrifizierung. Das hat seinen Reiz.
Die Mitarbeiterin der GSW stellt ihr Streben nach einer neuen Bewohnerschaft zweifellos in einem positiven Licht dar. Schließlich trete sie damit einer Ghettoisierung entgegen und für junge Kleinfamilien werde das Wohnambiente freundlicher. Ulas Atay vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg (TBB) findet das diskriminierend. Denn hinter dieser beschworenen freundlichen Vielfalt sieht er eine Ablehnung der migrantischen Bewohner. Längst gebe es für sie eine akute Wohnungsnot in Kreuzberg, weiß er zu berichten. Denn nicht nur ein geringes Einkommen schränke die Suche nach einem Zuhause ein, auch die Herkunft kann erschwerend sein.
Ein Blick in den Abrund
Atay berichtet von einem Versuch, den er mit einem Kollegen machte. Sie beide bemühten sich um dieselbe Wohnung. »Mein Mitarbeiter sprach am Telefon mit türkischem Namen vor und bekam als Antwort, dass die Wohnung bereits vergeben ist. Anschließend bekundete ich als Peter Baumann mein Interesse und erhielt sofort einen Besichtigungstermin.« Es sei nur ein Test gewesen, meint Atay, doch für ihn war es ein Blick in den Abgrund.
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