Versuchen wir es ...

Konkrete Utopie und das Vorhaben des Communismus.

  • Raul Zelik
  • Lesedauer: 7 Min.
Der folgende Text sowie Zitate entnahmen wir mit freundlicher Genehmigung des Hamburger VSA-Verlages dem in der kommenden Woche erscheinenden neuen Buch des Politologen und Publizisten Raul Zelik (Jg. 1968) »Nach dem Kapitalismus? Perspektiven der Emanzipation oder: Das Projekt Communismus anders denken« (143 S., br., 12,80 €).
Versuchen wir es ...

1 650 Seiten benötigt Ernst Bloch im »Prinzip Hoffnung«, um den »wissenschaftlichen« Sozialismus mit der Utopie zu versöhnen. Er vermisst das Terrain zwischen Messianismus und Sozialrebellion, Erlösungshoffnungen und Praxis, zwischen den technokratischen Herrschaftsphantasien »hellenistischer Staatsmärchen« und der transzendentalen Vertröstung im Christentum und macht dabei u.a. zwei Linien aus, in denen die ganze Problematik utopischen Denkens angelegt ist. Da ist zum einen die romantische Idealisierung des Naturzustands, wie sie in Thomas Morus' »Utopia« (1516) zum Ausdruck kommt, zum anderen die technokratische Ordnungsphantasie, die den »Sonnenstaat« (1602) von Tommasso Campanella kennzeichnet. Während Morus' freundlich-kommunistische Insel in ihrer Verträumtheit harmlos wirkt, wird Campanellas Vision, in der selbst noch die Tagesabläufe der kommenden Gemeinschaft im Detail beschrieben werden, zum furchteinflößenden Generalstabsvorhaben.

Die beiden Beispiele zeigen gut, warum Marx den Utopismus für eine Sackgasse hielt und warum der Anarchismus mit seinem Faible für ideale Welten und große Visionen bis heute ein Problem hat. Bloch gibt sich hier ganz als Marxist: »Die sentimentale wie die ab-strakte Weltverbesserung hat ausgespielt, an ihre Stelle ist geschulte Arbeit in und mit wirklichen Tendenzen getreten.« Doch dem Bann des Utopischen kann Bloch sich in der Folge dann doch nicht entziehen. Die Sehnsucht nach der Zeitenwende birgt ihm zu viel subversives Potenzial, und so optiert er – Walter Benjamin an diesem Punkt sehr nahe kommend – für eine Verschränkung von Messianismus und Anti-Utopie.

Immer wieder verteidigt Bloch den »wissenschaftlichen Materialismus« (dessen von Hegel entliehener Geschichtsdeterminismus heute allerdings nicht minder idealistisch wirkt als der gescholtene Frühsozialismus), um sich dann doch wieder für die großen Entwürfe zu begeistern. Bloch liest die utopischen Pläne als Widerstands-Narrationen und somit als Ausdruck und Antizipation gesellschaftlicher Risse. Um den Boden des Materialismus – oder was man damals dafür hielt – nicht ganz zu verlassen, nähert Bloch sich ihnen literaturwissenschaftlich und leitet ihre Beschränktheit aus historischen Kontexten ab. »Die Träume, besser zusammen zu leben, wurden lange nur innerlich ausgedacht. Dennoch sind sie nicht beliebig, nicht so gänzlich freisteigend, wie es den Urhebern zuweilen selber erscheinen mochte. Und sie sind untereinander nicht zusammenhangslos, so daß sie nur empirisch aufzuzählen wären wie kuriose Begebenheiten. Vielmehr: sie zeigen sich in ihrem scheinbaren Bilderbuch- oder Revuecharakter als ziemlich genau sozial bedingt und zusammenhängend. Sie gehorchen einem sozialen Auftrag, einer unterdrückten oder sich erst anbahnenden Tendenz der bevorstehenden gesellschaftlichen Stufe.«

Doch Bloch beschränkt sich nicht darauf, die utopischen Erzählungen materiell zu ankern. Er arbeitet umgekehrt auch die utopische Dimension von sozialen Handlungen und Kämpfen heraus. Diese verweisen, so meint er, auf »Noch-Nicht-Gewordenes« (ebd. 728), nehmen das mögliche Andere vorweg. Den Brückenschlag wagt er schließlich mit dem Begriff der »konkreten Utopie«. Ihr »kommt es darauf an, den Traum von ihrer Sache, der in der geschichtlichen Bewegung selbst steckt, genau zu verstehen. Es kommt ihr, als einer mit dem Prozess vermittelten, darauf an, die Formen und Inhalte zu entbinden, die sich im Schoß der gegenwärtigen Gesellschaft bereits entwickelt haben.« Es geht also darum, jene gesellschaftlichen Diskurse, Erfahrungen und Praxen zu identifizieren, zu benennen und zu stärken, mit denen eine Gesellschaft ihre Überwindung vorwegnimmt.

Konkret sind die Utopien nicht deshalb, weil sie besonders detaillierte Visionen entwickeln – im Gegenteil: Das wäre ja gerade ein Merkmal der frühsozialistischen Utopien. Konkret sind Utopien dann, wenn sie das Nach-Vorne-Weisende im Bestehenden entdecken und weiterführen.

Bloch ist hier bei Marx und geht doch über ihn hinaus. »Der Kommunismus«, heißt es bei Marx, »ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.« Das Problem ist nun allerdings, dass die Geschichte nicht einfach nach vorne drängt. Gesellschaftliche Prozesse sind offensichtlich von Kontingenz geprägt.

Die Entstehung des Kapitalismus selbst spricht hier Bände: Immer wieder haben Sozialhistoriker in den letzten Jahrzehnten die Frage aufgeworfen, warum sich der Kapitalismus im ausgehenden Mittelalter in Westeuropa zu entwickeln begann, obwohl die produktive und zivilisatorische Entwicklung Chinas zum gleichen Zeitpunkt sehr viel weiter fortgeschritten war. Offensichtlich war der Kapitalismus nicht einfach das Ergebnis von Produktivkraftentwicklung und Herrschaftsordnung, sondern ging aus der dynamischen Überlagerung von Machtkonflikten, politischen Arrangements, kulturellen Konzepten, technischen Entwicklungen, Geschlechterverhältnissen, religiösen Vorstellungen, Körperlichkeitsdiskursen, kolonialen Eroberungen, der Freisetzung von Arbeitskräften, aber auch der Zwangsarbeit der kolonial verschleppten Sklaven und Ureinwohner hervor. Deshalb ist die Lektüre sozialhistorischer Arbeiten von Michel Foucault, Fernand Braudel oder Giovanni Arrighi so erhellend: Ihre Untersuchungen arbeiten die vielen losen Fäden heraus, die aufeinandertreffen, Verbindungen eingehen, Gefüge bilden. Linien der Entwicklung lassen sich auf diese Weise schon ausmachen, nur eben keine eindeutigen Entwicklungslinien.

Vielleicht ist der Blochsche Begriff der »konkreten Utopie« trotz seines emphatischen Sounds deshalb so brauchbar. Wenn es stimmt, dass sich der globale Kapitalismus auf Bruchpunkte zubewegt, dann werden sich in den anstehenden Krisen neue Optionen eröffnen – stets mehr als nur zwei. Die Richtung der Entwicklung ist nicht vorgegeben: Auf den Spätkapitalismus kann ein früherer folgen, der »späte« sich als doch gar nicht so »spät« entpuppen. Die erstaunliche Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus kann eine noch erstaunlichere Kontinuität ermöglichen.

Wenn historische Situationen offen sind, dann wird es umso wichtiger, Möglichkeiten aufzuzeigen und Alternativen strategisch zu entwickeln. Hier stehen wir jedoch gleich vor der nächsten Schwierigkeit: Wie können wir das im Existierenden angelegte Noch-Nicht-Gewordene hervorheben, ohne es zu überhöhen? Dass das, was ein emanzipatorisches Potenzial besitzt, es noch lang nicht entfalten muss, hat sich in der Geschichte schon oft erwiesen. Der Post-Operaismus um Michael Hardt/Toni Negri, Paolo Virno und Maurizio Lazzarato hat in den vergangenen 15 Jahren immer wieder behauptet, die Produktionsprozesse im IT-Zeitalter schüfen protokommunistische Produktionsbedingungen: In der Informationsgesellschaft ist kollektives Wissen zur zentralen Produktivkraft geworden. Mit dem PC halten die Arbeitenden das wichtigste Produktionsmittel selbst in der Hand. Im Internet entstehen ganz neue Formen internationalisierter Kooperation und Produktion. Das alles ist nicht falsch: Aber ergibt sich daraus eine Tendenz zum Communismus?

Das stimmt in ähnlicher Weise auch für den lateinamerikanischen »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«, der in den letzten Jahren zur zentralen Referenz einer eher staatlich orientierten Linken geworden ist. Auch hier zeigt sich das Bedürfnis nach Gewissheiten. Die nicht-neoliberale Politik Venezuelas und Boliviens wird als großes Gegenprojekt verhandelt. Zu wenig wird darüber reflektiert, dass in den betreffenden Ländern widersprüchliche Prozesse in Gang sind: Emanzipationsmöglichkeiten sind gleichzeitig eröffnet, ungenützt gelassen und verschlossen worden. Auch hier überlagern sich Linien kontingent, bilden sich Verdichtungen und Knoten. Nicht alle sind gutartig ...

Es gilt also, gleichzeitig utopisch und skeptisch zu sein. An den genannten Arbeiten ist interessant, dass sie sich auf die Suche nach emanzipatorischen Möglichkeiten in Arbeitsprozessen, Regierungsprojekten, Widerstandsformen begeben. Neugier und Zuversicht sind Triebfedern des Anderen. Die Herausforderung besteht darin, dass man sie auch für Phänomene entwickeln können muss, an denen man Zweifel hegt, deren Uneindeutigkeit man erkennt.

Bei Bloch, dem unzeitgemäßen, liest sich das so: »Wenn der junge Marx dazu aufrief, endlich zu denken, zu handeln ›wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch‹, so nicht, um die Begeisterung des Ziels zu dämpfen, sondern um sie zu schärfen.«

Nüchterne Begeisterung, euphorische Skepsis, aufgeklärter Messianismus – versuchen wir es mit einer widersprüchlichen, vielleicht kontingenten Verbindung.


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Das Vorhaben des Communismus, das uns so utopisch erscheint, wird permanent von gesellschaftlichen Bewegungen materialisiert: globale Kämpfe gegen die Privatisierung von Wasser oder Gen-Patente, genossenschaftliche Arbeitsformen, das Engagement in Basisgewerkschaften und politischen Gruppen, die Kritik der Verhältnisse, Alltagssolidarität, das Schaffen experimenteller Kooperation usw.

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Das Gemeinschaftliche ist vernünftig, weil unser Leben der Kooperation bedarf, weil gesellschaftliche Lösungen für die anstehenden großen Krisen die beste Option darstellen, weil das Gemeinschaftliche – gegen die Verhältnisse – täglich produziert wird und weil wir uns letztlich nach kooperativer Gemeinschaftlichkeit sehnen. Verstanden als umfassende, radikale Demokratisierung, als Aneignung der Gesellschaft durch sich selbst hat das Gemeinschaftliche, hat das Vorhaben des Communismus eine Zukunft: Es ist die klügste, auch begehrenswerteste Option für jene Stürme, die uns bevorstehen.

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