Öl, Gold, Heimat
Stakkato von Themen und Haltungen: »Bodenprobe Kasachstan« im HAU
Themen locken Menschen. Ein älteres als das gewöhnliche Publikum des HAU fühlte sich von der Premiere von Stefan Kaegis neuem Stück »Bodenprobe Kasachstan« angezogen. Ihm ging das Thema, die Erkundung der Herkunftsregion vieler Russlanddeutscher, ebenso nahe wie dem Regisseur selbst. Der einzige Unterschied bestand darin, dass der Schweizer Theatermacher voller Neugierde auf die bisherige Terra incognita Kasachstan blickte, während die vor allem aus den Ostberliner Randbezirken ans Hallesche Ufer gezogenen Russlanddeutschen selbst an Eindrücken aus ihrer alten Heimat interessiert waren. Am Ende waren die Wünsche beider Seiten erfüllt.
Kaegi stellte dank einer wunderbar Widersprüche generierenden Theatermaschine all denen, die noch keine Kasachstanexperten sind, Land, Leute und Konflikte vor. Die früheren Bewohner indes konnten ihre Erinnerungsapparate anhand der Bilder, Videos, Erzählungen und vor allem Gesänge der aus Kasachstan und Tadshikistan zugereisten Protagonisten des Abends anwerfen. Es fehlte nicht viel, dann hätten sie auch mitgesungen, als Helene Simkin ein Lied vom »schweren Jahr 1941« anstimmte, Elena Panibratowa ein tadshikisches Volkslied begann oder Nurlan Dussali sich auf einem traditionellen Saiteninstrument selber begleitete.
Wer nicht ins Singen, sondern allenfalls ins Mitsummen kam, war der einzige in Deutschland gebürtige Protagonist des Abends. Gerd Baumann, Ölbohrspezialist aus Rostock mit Felderfahrung in Irak, Texas und Kasachstan, setzte den gewichtigsten Kontrapunkt des Abends. Der kantige Typ mit den schweren Stiefeln und dem militärisch kurz geschorenen weißen Haar führte nicht nur mit beinahe zu Herzen gehender Zärtlichkeit die gewaltigen Maschinen vor, mit denen er und seine Kollegen die Erde penetrieren, um das schwarze Gold heraussprudeln zu lassen. Er holte auch seinen ihm bemerkenswert ähnlich sehenden Urgroßvater aus dem Giftschrank. Der Wehrmachtsoffizier wurde während des 2. Weltkriegs mit dem Ritterkreuz geehrt, weil er so vorzüglich den Dnepr- Bogen hielt. Während der deutsche Ingenieur sich im Theater in Karten vertiefte, die das Gitternetz der Claims der Ölmultis auf kasachischem Territorium zeigen, erinnerte er sich an seinen Vorfahren, der auf Landkarten der gleichen Region Frontlinien studierte.
Bemerkenswert ist dann, wie in einem weiteren Videoeinspiel der Großvater Dussalis, ein mit Orden behängter ehemaliger Rotarmist, ein Stalinzitat benutzend vom »Kampf gegen den Faschismus, aber nicht gegen das deutsche Volk« spricht und seinen Enkel dafür lobt, dass der mit anderen Kasachen und Russen sich jetzt unter die Deutschen mischt und sich die Völker so nahe kommen. Das ist ein rührender Moment, der aber gleich durch die Großmutter gebrochen wird, die den Enkel doch gern bei sich zu Hause hätte und ihm ausrichtet, auch in der Heimat gäbe es genug Blondinen für ihn, eine hübscher als die andere. Dussali, ein mit Hemd und Anzug auf die Bühne geeilter Geschäftsmann, der in Deutschland mit Öl handelte und jetzt Solarstrom verkauft, hatte aber vorher bereits klar gemacht, dass ihn mehr noch als die hiesigen Blondinen das etwas freiere Geschäftsleben locke. In Kasachstan müsse der Gründer eines dynamischen Unternehmens fürchten, dass sich zu schnell andere Leute für dieses Unternehmen interessierten, umschrieb er das Hindernis Korruption.
Das Stakkato von Themen und Haltungen, von widerstreitenden und sich ergänzenden Perspektiven machte die Qualität dieses Abends aus. Interessant war auch, dass »Bodenprobe Kasachstan« sich quer zur aktuellen Nachrichtenlage verhielt.
»Bodenprobe Kasachstan« ist ein eminent politischer Abend. Es handelt sich auch um einen bemerkenswerten Theaterabend. Denn inmitten all der Videoschnipsel und Erinnerungsfetzen konstituiert sich auf der Bühne ein Ensemble, das zwar aus individuell sehr verschiedenen Personen besteht, die aber doch zu einer wundervoll kollaborierenden Truppe zusammenfinden. Stefan Kaegi hat die von seiner Gruppe Rimini Protokoll entwickelte Erkundungstechnologie auf neue Höhen geführt.
Bis 3.5., 20 Uhr, Hebbel am Ufer
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.