Kiew und Moskau streiten wieder

Abhängigkeit der Ukraine von russischen Energiequellen belastet die Beziehungen

  • Manfred Schünemann
  • Lesedauer: 4 Min.
In der Ukraine gedachte man in der vergangenen Woche nicht nur der Katastrophe von Tschernobyl vor 25 Jahren. Anlass für Kommentare und Analysen war auch der erste Jahrestag der Ratifizierung der »Charkower Abkommen« zwischen den Präsidenten Russlands und der Ukraine.

Gerade noch rechtzeitig vor dem Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl war es gelungen, die internationale Finanzierung für eine dauerhafte »Verhüllung« der Kernkraftwerksruine zu sichern. Dafür verpflichtete sich die Ukraine, den neuen Sarkophag bis 2015 fertigzustellen. Viele Gedenkveranstaltungen ließen aber auch erkennen, dass die Führung des Landes weiterhin auf Atomenergie setzt und dass sich in der Bevölkerung – wie vor 25 Jahren – nur wenig Widerstand dagegen erhebt: Seit der Atomkatastrophe in Tschernobyl wurden in der Ukraine sieben neue Atomreaktoren mit einer Leistung von etwa 6650 Megawatt in Betrieb genommen. Gegenwärtig beträgt der Anteil der Kernenergie an der Stromerzeugung 51 Prozent. Zwei weitere Reaktoren sind im AKW Chmelnizki im Bau.

Für alle ukrainischen Kernkraftwerke liefert Russland sowohl die Technologie als auch den Kernbrennstoff, und es garantiert die Rücknahme aller radioaktiven Reste. Die ukrainische Energiewirtschaft ist also nicht nur in Bezug auf Erdgas- und Erdöllieferungen von Russland abhängig, sondern auch im Bereich der Kernenergie – und das zu 100 Prozent. Aus dieser Abhängigkeit resultieren immer wieder Belastungen für das Verhältnis zwischen den Nachbarn. Das umso mehr, als Moskau diese Abhängigkeiten durchaus zu nutzen versucht, um eigene ökonomische und politische Interessen durchzusetzen.

Gegenwärtig streiten beide Seiten um die Gasverträge von 2009, die noch von der Regierung Julia Timoschenkos ausgehandelt wurden. Als Basispreis sind darin 450 Dollar je 1000 Kubikmeter Erdgas vereinbart. In den »Charkower Abkommen« vom April 2010, in denen die Frist für die Stationierung der Russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol um 25 Jahre verlängert wurde, gewährte Russland den Ukraine einen Preisnachlass von 100 Dollar je 1000 Kubikmeter. Beim jüngsten Treffen mit dem russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin legte der ukrainische Premierminister Mykola Asarow jedoch Berechnungen vor, denen zufolge die Ukraine noch im Laufe dieses Jahres mehr bezahlen müsste als Polen (320 Dollar) oder Deutschland (330 Dollar). Nachdrücklich verlangte er daher nicht zum ersten Mal die Änderung der Gaspreisformel. Putin ließ sich jedoch nicht beeindrucken und betonte vor der Presse in Moskau: »Alle Beteiligten müssen verstehen, dass der geltende Vertrag funktioniert und erfüllt werden muss.« Das angespannte Verhältnis dürfte durch die harsche Ablehnung des ukrainischen Begehrens weiter belastet werden.

Dabei ist gerade ein Jahr vergangen, seit mit dem Treffen zwischen Viktor Janukowitsch und Dmitri Medwedjew in Charkow (ukrainisch Charkiv) das zuvor zerrüttete Verhältnis zwischen Kiew und Moskau normalisiert und ein Neuanfang vereinbart worden war. Inzwischen sind die Beziehungen zwar längst nicht so frostig wie zu Zeiten der Präsidentschaft Viktor Juschtschenkos, aber sie haben sich wieder merklich abgekühlt. Der Streit um die Gaspreisformel ist dafür nur ein Indiz.

Hauptärgernis für Moskau ist, dass sich die Ukraine sträubt, der Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Belarus beizutreten, zugleich aber über ein Freihandels- und Assoziierungsabkommen mit der EU verhandelt. Erleichtert wird der ukrainischen Führung dieser Kurs durch ein spürbares Entgegenkommen der EU in bisher strittigen Fragen. So stellte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso Sonderregelungen für ukrainische Landwirtschaftsprodukte und erleichterte Visaerteilung für ukrainische Staatsbürger in Aussicht. Auch die 110 Millionen Dollar EU-Beteiligung an den Kosten für den neuen Sarkophag in Tschernobyl dürften ihren Eindruck auf die ukrainische Führung nicht verfehlt haben.

Russland verfolgt den neuerlichen Schwenk in der ukrainischen Politik mit Misstrauen. Ein Nichtbeitritt der Ukraine zur russisch dominierten Zollunion könne die Wirtschaftskooperation in vielen für die Ukraine wichtigen Bereichen – darunter im Energiesektor – beeinträchtigen, verlautet aus Moskau. In Kiew ist man sich der Problematik durchaus bewusst, zumal die Ukraine etwa 40 Prozent ihres Außenhandels mit GUS-Staaten abwickeln und Experten bei einem Beitritt zur Zollunion einen Zuwachs voraussagen. Gerade wurde eine weitreichende Kooperation in der Raumfahrt- und Rüstungsindustrie vereinbart. Deshalb sucht man fieberhaft nach einer Kompromisslösung. Präsident Janukowitsch brachte die Formel »3 plus 1« ins Spiel: Die Ukraine solle in der Zollunion einen Sonderstatus bekommen, der einem Freihandels- und Assoziierungsabkommen mit der EU nicht im Wege steht. In Moskau wurde diese Idee mit der Bemerkung zurückgewiesen, eine »halbe Mitgliedschaft« in einer Zollunion könne es nicht geben. Nach wie vor setzt man auf die Vollmitgliedschaft der Ukraine, um danach als Integrationsraum »auf Augenhöhe« ein gemeinsames Freihandelsabkommen mit Brüssel aushandeln zu können.

Zwar betonen beide Seiten offiziell, zwischen Gaspreisabkommen und Beitritt zur Zollunion bestehe kein direkter Zusammenhang, doch kritisieren russische Medien offen, dass »die Ukraine billiges Gas ohne eine Zollunion möchte«. Zweifelhaft bleibt, ob das angesichts der ukrainischen Abhängigkeit von russischen Energieträgerlieferungen und von der Wirtschaftskooperation möglich ist.

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