Das Leben getanzt
Der jüdische Tänzer Sylvin Rubinstein ist tot
Dolores & Imperio – das waren die Zwillinge Maria und Sylvin Rubinstein, ein in den 1930er Jahren in ganz Europa berühmtes Flamencopaar. Sie führten ein angenehmes Leben in Glanz und Glamour, das ein vorzeitiges Ende fand, als in Deutschland die Faschisten an die Macht kamen. Von da an waren sie eine Jüdin und ein Jude auf der Flucht. Die Wege der Zwillinge trennten sich 1941 im Warschauer Ghetto. Maria wollte die Mutter vor den deutschen Nazis in Sicherheit bringen. Sylvin sah weder Mutter noch Schwester jemals wieder. Er selbst überlebte den Faschismus auf wundersame Weise, zwischen Versteck und Gefängnis und weil ihn ein deutscher Wehrmachtsoffizier schützte.
Seine Schwester mit nicht einmal 30 Jahren, aber sie begleitete Sylvin Rubinstein sein ganzes weiteres Leben lang: In seinen Träumen, aber auch auf der Bühne. Ihr zu Ehren trat er als »Imperia Dolorita« in Frauenkleidern auf und wurde noch einmal ein berühmter Tanzstar. »Wenn ich habe getanzt, ich habe gehabt mein Schwesterlein immer dabei«, zitiert der Journalist Kuno Kruse den in Polen aufgewachsenen Künstler in seiner Biographie »Dolores & Imperio. Die drei Leben des Sylvin Rubinstein«.
1945 hatte er aus den Trümmern des zerbombten Berlins eine Nazi-Flagge gezogen, aus der er ein hübsches Kleid nähte. Die Anprobe vor dem Spiegel war die Geburtsstunde des Varieté-Stars »Imperia Dolorita«, als der er später im Hamburger Stadtteil St. Pauli bekannt wurde. Im alten »Moulin Rouge« tanzte Rubinstein den ersten Striptease: »In rotes Licht getaucht ließ Dolorita die Träger des Kleides über die Schultern rutschen. Vor dem Finale schlängelte sich eine Blumenboa keusch über den Schritt, eine Drehung und die schöne Nackte war entschwunden.« Falsche Brüste ermöglichten diesen Auftritt, und »mein Gemächt hatte ich geklebt zwischen die Beine. Aber wenn ich musste pinkeln, es war grausam, ich musste alles abreißen und kleben neu«. Der nach dem Krieg zeitweise bei Rubinstein lebende Komponist Michael Jary widmete ihm 1951 das Lied: Das machen nur die Beine von Dolores.
Sylvin Rubinstein hatte das Herz auf dem rechten Fleck: Exilanten aus Sri Lanka und Chile lebten bei ihm, die kurdische Nachbarsfamilie wurde selbstverständlich unterstützt. »Flüchtlinge aus Timor verkrochen sich vor dem indonesischen Terror in der kleinen Wohnung auf St. Pauli. Der Putschist und Okkupant Suharto war damals zu Gast auf dem Petersberg in Bonn. Er war ein Freund der Bundesrepublik. Donnas Freunde waren seine Opfer«, schreibt Kruse.
Einmal versteckte er einen jungen Mann, der mit der RAF sympathisierte. Oder mit den Revolutionären Zellen, so genau wusste das Rubinstein nicht. »Irgendein Studentenkram«, über den er nur den Kopf schüttelte. Gewalt und Terror verabscheute er, »aber Franz, der Name genügte, ist auf der Flucht gewesen«, so Kruse. Und Rubinstein fühlte sich verbunden. »Auch er war auf der Flucht gewesen, früher, als Hans-Martin Schleyer noch ein SS-Mann war.«
22 Jahre lang arbeitete Rubinstein zudem für die Ausländerbehörde als Dolmetscher – bis er dahinter kam, dass die Beamten nicht nach Notlage der Antragstellenden entschieden, sondern nach der Größe des Geldbündels, das ihnen unter dem Schreibtisch durchgeschoben wurde.
Die Erinnerungen an den Faschismus und an seine Zwillingsschwester verfolgten ihn sein ganzes Leben. Vor allem in den letzten Jahren quälten ihn die Bilder in schlimmen Albträumen, Nacht für Nacht. Vor fünf Jahren hatte Rubinstein seinen letzten Tanzauftritt in der unvergesslichen Gestalt der Dolores. Am 30. April starb er im Alter von 96 Jahren in Hamburg. Vor wenigen Tagen wurde er auf dem jüdischen Friedhof in Ohlsdorf im engsten Freundeskreis beigesetzt.
Am 15. Mai, um 17 Uhr, zeigt das Hamburger Kino »Metropolis« den Dokumentarfilm über Sylvin Rubinstein »Er tanzte das Leben«. Im Jahr 2000 ist die Biografie von Kuno Kruse »Dolores & Imperio« bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
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