Verdächtigt. Gedemütigt. Ausgewiesen.

Erinnerung an ein Philosophenschicksal aus dem Jahre 1953 – zum 100. Geburtstag von Walter Hollitscher

  • Hans-Christoph Rauh
  • Lesedauer: 6 Min.
Der österreichische Philosoph, der im Interesse der Arbeiterklasse konspirativ tätig sein sollte Fotos: ND-Archiv
Der österreichische Philosoph, der im Interesse der Arbeiterklasse konspirativ tätig sein sollte Fotos: ND-Archiv

»Auf Grund ihres Verhaltens in der Vergangenheit haben Sie den Wunsch ausgesprochen, alles tun zu wollen, um sich das Vertrauen der Partei, Marx, Engels, Lenin und Stalin zurückzugewinnen. Daher wird zu Ihrer Angelegenheit Abstand von einer Strafverfolgung genommen. Ihre Tätigkeit kann in Zukunft für die Interessen der Arbeiterklasse nur konspirativer Natur sein. Bezüglich dieser Tätigkeit werden Sie eine Schweigeverpflichtung schriftlich abgeben müssen«, heißt es in einem Schreiben, datiert vom 8. Juli 1953. Weiter wird angeordnet: »Nach Ihrer Entlassung begeben Sie sich nach Hause. Es ist Ihnen verboten mit irgendwelchen Personen zusammenzutreffen, um Ihren Aufenthalt zu verzögern.«

Die Vorwürfe

Der nach mehrwöchiger »Verwahrung« und Verhören seit März 1953 eine Verpflichtungserklärung unterschreibende Mann war kein geringerer als der bekannte österreichische marxistische und kommunistische Philosoph Walter Hollitscher (1911 - 1986). Er sollte sich nach Wien zurückbegeben, um fortan als GM »Mizzi« für das MfS der DDR tätig zu sein.

1949 war er als Gastprofessor nach Berlin gekommen, wurde ordentlicher Professor für Logik und Erkenntnistheorie sowie erster Direktor des 1951 wieder begründeten Philosophie-Instituts der Humboldt-Universität. Er war aktiv in der Urania und im Kulturbund tätig und wegen seiner populären Schriften und lebendigen Vorträge hoch angesehen. Umso merkwürdiger und unerklärlich musste Kollegen und Studenten sein plötzlicher »Weggang« aus Berlin anmuten. Um eine angeblich »bruderparteilich« verabredete Zurückrufung nach Wien, wie offiziell deklariert, handelte es sich hierbei jedenfalls nicht.

In einem Bericht für Erich Mielke wird informiert: »Die KPÖ in Wien hat bisher noch keine Nachricht von der SED erhalten.« Sodann wird berichtet, dass gegen Hollitscher eine Untersuchung eingeleitet worden sei, da dieser selbst angegeben habe, dass »er während seiner Emigrationszeit in England mit Personen, die im Zuge der Entlarvung der Szlansky-Bande genannt wurden, in Verbindung stand«. Aus diesem Grunde werde auf sein weiteres Verbleiben in der DDR verzichtet. Dies sei die Auskunft, die der KPÖ zu geben sei. Eine handschriftliche Notiz mahnte explizit: »Diese Mitteilung gibt das ZK – auch bei Nachfrage aus Wien!«

Die Wahrheit bringt ein nach über einem halben Jahrhundert zufällig aufgefundener Aktenvorgang ans Licht. Da dem wahrlich unbescholtenen, aber sehr kommunikationsfreundlichen Wissenschaftler aus Wien feindliche Spionagetätigkeit nicht nachgewiesen werden konnte, mussten »Rechtsverletzungen« herhalten, die »Strafverfolgung« nach sich ziehen könnten, um den grundehrlichen und treuen Genossen zu perfidem Zwecke zu erpressen. Hollitscher wurde Fragebogenfälschung, Fälschung des Lebenslaufes, Einschleichen in öffentliche Ämter der DDR und Missbrauch jener vorgeworfen. Nichts stimmte.

Die Erpressung

Die Lektüre der Akten erschüttert. Ahnungs- und fassungslos spricht Hollitscher die Vernehmer mit »Genossen« an, während diese ihn »charakterlos« und »unglaubwürdig« nennen. Immer wieder betont der Philosoph, stets im Interesse der Partei gehandelt zu haben. Das Bekenntnis mündet im Ausrufesatz: »Damals wie heute würde ich lieber mein Leben lassen, als der Sache der Partei einen Schaden zuzufügen. Ihr müsst mir dies glauben, Genossen!«

Die Sprachdiktion der Vernehmer hingegen verrät nicht nur deren antiintellektuelle Einstellung. Ihnen ist auch Hollitschers »jüdisch-bürgerliche Herkunft« (!) suspekt. Er wird von ihnen als »eitel, im höchsten Masse leichtfertig u. großsprecherisch« diffamiert. Ihre Anschuldigungen gipfeln in dem Verdikt: »Statt die materialistische Philosophie gründlich und richtig zu lehren, waren zu allen Zeiten seine Vorlesungen auf Universitäten mit feindlichen positivistischen Auffassungen durchsetzt und hat damit Verwirrung in den Köpfen der Studenten hervorgerufen.« Das erinnert an einen preußischen Behördenbescheid über den aufklärerisch-kritischen Königsberger Universitätsphilosophen Kant unmittelbar nach Beginn der französischen Revolution. Indes, im Fall Hollitscher haben sich auch Kollegen nicht gerade mit Ruhm bekleckert: So hatte schon vor den Vernehmern u. a. Robert Havemann Hollitscher vorgeworfen, nicht konsequent und parteilich genug mit seiner »Wiener Vergangenheit«, also »positivistischen und psychoanalytischen« Erbschaft, gebrochen zu haben.

Die Schmäh der Vernehmer ist grenzenlos. In einem Vermerk vom 2. Juli 1953 wird berichtet, man habe Hollitscher »in seiner Verwahrung aufgesucht, um von ihm einen unmittelbaren Eindruck zu bekommen und festzustellen, ob er zur Anwerbung als GM geeignet ist … Während dieser Unterredung machte H. infolge seiner aufgedeckten unwürdigen Vergangenheit einen unterwürfigen, betteligen, weinerlichen Eindruck. Von seiner sonstigen Eitelkeit und seinem selbstsicheren Auftreten war keine Spur … Nach Rückkehr in seine normale Gemütsverfassung wird H. auf Grund seiner überdurchschnittlichen Intelligenz, Klugheit und allseitigen Beziehungen vollwertig geeignet sein, als GM für uns zu arbeiten.« Damit war die Katze aus dem Sack.

Die »Spionageabwehrtätigkeit« des Philosophen sollte sich jedoch als unergiebig erweisen; bereits nach wenigen Monaten brach das MfS den Vorgang »Mizzi« ab. Der gedemütigte und vertriebene Genosse blieb parteiverbunden, wurde sogar ins ZK der KPÖ gewählt, setzte erfolgreich seine wissenschaftliche und schriftstellerische Tätigkeit fort, wurde bald auch wieder in der DDR publizistisch wirksam und kehrte ab 1966 »besuchsweise« in das Land zurück, in dem man ihm schweres Unrecht angetan hatte. Schließlich war er auch wieder Gastprofessor für »philosophische Fragen der Naturwissenschaften« an der Karl-Marx-Universität in Leipzig, wo er 1971 mit dem Ehrendoktor gewürdigt wurde. 1976 erhielt er gar von der Regierung der DDR den Stern der Völkerfreundschaft in Gold. Die Sowjetregierung beschenkte ihn mit der Lenin-Medaille.

Die »Aussprache«

Über seine Inhaftierung und Vertreibung aus der DDR 1953 sprach Hollitscher parteidiszipliniert nie. Und in nachwendischen Lebensrückblicken von DDR-Kollegen werden lediglich Streitgespräche insbesondere um sein damaliges »naturphilosophisches« Vorlesungsmanuskript einer modernen »Dialektik der Natur« samt »Aussprache« mit Kritik und Selbstkritik sowie abschließender »Verurteilung« beim Kulturbund unter der alleinigen Federführung von Kurt Hager erwähnt.

An Hollitscher war das parteigesteuerte Szenarium erprobt worden, das wenige Jahre später gegen einen anderen »unmarxistischen«, diesmal wirklich parteilosen, aber nicht unparteiischen Philosophen (ebenfalls Westemigrant) angewandt wurde: Ernst Bloch in Leipzig. Dies alles vollzog sich vor dem Hintergrund der Errichtung »reiner« marxistisch-leninistischer Philosophie-Institute. Da passte, dass ein Kurt Hager ohne jegliche universitäre Ausbildung oder fachphilosophische Qualifizierung erster ordentlicher Professor und Lehrstuhlinhaber für Dialektischen und Historischen Materialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin wurde. Hollitscher war da bereits auf einen einzigen Lehrgegenstand, die mehr oder weniger »ideologiefreie« formale Logik zurechtgestutzt worden. Freiraum und Freiheit waren dem Philosophen also schon vor seiner »Verwahrung« beschnitten. Die Logik übernahm übrigens nach seiner Vertreibung, überaus erfolgreich, Georg Klaus.

Unterm Strich bleibt, dass die kurzen Jahre des Walter Hollitscher in der DDR dennoch sehr ergiebig waren. Er war Betreuer zahlreicher Dissertationen und geistiger Anreger für Kollegen, auch nach seiner Rückkehr nach Wien.

Walter Hollitscher, der vor 100 Jahren, am 16. Mai 1911, in Wien geboren wurde, gehört bleibend zu den bemerkenswert vielgestaltigen Anfängen der DDR-Philosophie.

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