• Reise
  • 9. ND-LESERGESCHICHTEN-WETTBEWERB

Die Liebe zu einem »Blauen Engel«

  • Lesedauer: 4 Min.

Sie war schon wieder fast am Durchdrehen, dabei hatte sie doch gestern Abend alles gut vorbereitet. Früh war die Zeit knapp, die Familie musste fast gleichzeitig aus dem Haus. Der Mann in sein Büro, der Junge zur Schule, und sie musste auch zur Arbeit. Zuvor musste sie die Kleine in die Kinderkrippe schaffen.

Sie hatte sich so gefreut, dass sie schnell einen Krippenplatz bekommen hatte. Leider war der nicht vor der Haustür, sie musste durch die ganze Stadt fahren, um das Kind abgeben zu können. Fast den gleichen Weg musste sie zurück, denn ihre Arbeitsstelle lag in ihrem Wohnbezirk.

Aber, Gott sei Dank, sie hatte ja ihren Trabi. Auf den hatte sie zwölf Jahre gewartet. Als sie ihn abholen wollten, standen dort nur zwei weiße und sechs blaue Fahrzeuge. Sie entschieden sich für einen der himmelblau lackierten. Später nannten sie ihn »unseren blauen Engel«. Den Schlager »Ein himmelblauer Trabant fährt fröhlich durchs Land ...« summte sie ihm zu Ehren öfter vor sich hin. Auf ihn war Verlass. Der ließ sie nicht im Stich.

Aber heute rief der Mann: »Wo hast du den Einkaufszettel?« Den hatte sie vorbereitet, denn Einkaufen war seine Sache. Der Zettel lag bereit. Der Junge rief jetzt vom Flur: »Tschüss, ich gehe dann mal los!« Sie atmete auf. So, die beiden war sie los. Nun zog sie die Kleine an. Dabei entspannte sie sich. Das Mädchen hatten sie sich gewünscht und es gedieh, war gesund und fröhlich.

Sie nahm das Kind auf den Arm und lief schnell die Treppe hinunter. Nun zum Parkplatz, da wartete ihr blauer Engel. Hoffentlich springt er bei der Kälte gleich an. Ja, der Gute tat seine Schuldigkeit. Also sie ihn anließ, schaute sie schnell auf die Uhr. Na ja, sie würde es noch schaffen.

In der Krippe zog sie die Kleine um, übergab sie der Erzieherin. Ihr Kind fühlte sich sichtlich wohl und streckte schon die Ärmchen nach der Betreuerin aus. Bloß gut, denn ihr war immer ein bisschen zum Heulen, wenn sie das Mädchen abgegeben hatte.

Nun zum Trabi. Den Autoschlüssel hatte sie in der Hand und wollte nun den blauen Engel aufschließen. Aber denkste, sie bekam den Schlüssel nicht ins Schloss. Mein Gott, jetzt passierte ihr, was sie schon öfter gehört hatte, das Schloss war eingefroren. Sie wollte es kaum glauben, sie war doch nur kurze Zeit in der Krippe gewesen.

Wie gut, dass sie immer ein Feuerzeug bei sich hatte. Sie hielt die kleine Flamme an das Schloss, aber auch nach erneutem Probieren rührte sich nichts. Ihr schossen die Tränen in die Augen, jetzt wird sie zu spät kommen. Wie peinlich, ihre Patienten in der Physiotherapie würden warten müssen.

Da kam ein junger Mann des Wegs, und mitleidig fragte er an, ob er ihr helfen könne. Nun versuchte auch er sein Glück – vergebens! Es gesellte sich noch ein Herr zu ihnen, der die Meinung vertrat, ihm würde es bestimmt gelingen, weil er nämlich Erfahrung hätte. Doch auch ihm widerstand das störrische Schloss. Als sie nun zu dritt eine ganze Weile gefummelt hatten, schlug der Erfahrene ihr vor: »Wir könnten es doch mal von hinten versuchen und über den Kofferraum ins Auto klettern.«

Zuerst hatte sie nur auf die Kofferraumklappe gesehen, doch nun hob sie ihre Augen, und was sah sie da? Im Fond des Autos lagen eine umhäkelte Klopapierrolle und ein mit einer Autonummer besticktes Kissen!

Heiß überfiel sie die Erkenntnis, dass dieses Fahrzeug nicht ihr Auto war. Sie hob ihren Blick noch ein bisschen höher und sah ihren braven blauen Engel drei Autos weiter vorn in der Parkreihe. Mein Gott, wie bekomme ich jetzt bloß die hilfsbereiten Männer los? Sie erklärte nun, dass sie sicher nicht durch die Kofferklappe käme und sich entschlossen hätte, mit der Straßenbahn zu fahren.

Sie wartete, bis die beiden um die Ecke verschwunden waren, dann lief sie schnell zu ihrem Trabi. Der öffnete ohne Sperenzchen, sie streichelte das Lenkrad, legte einige Sekunden ihren Kopf darauf; wie liebte sie diesen zuverlässigen Kameraden, wie dankbar war sie ihm. Sie atmete tief durch und startete ihren Arbeitstag.

Herta Hoffmann
03042 Cottbus

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