Uruguayer fordern Ende der Amnestie

Schweigemarsch gegen die Straflosigkeit der Diktatur / Parlament hält Gesetz aufrecht

  • Gerhard Dilger, Porto Alegre
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Aufarbeitung der Militärdiktatur spaltet das linke Regierungsbündnis »Breite Front«. Präsident »Pepe« Mujica laviert und beschert der rechten Opposition einen Abstimmungserfolg.

In Uruguay haben am Freitagabend Zehntausende für eine Annullierung des Amnestiegesetzes aus dem Jahr 1986 demonstriert. In einem Schweigemarsch unter dem Motto »Wahrheit und Gerechtigkeit, Recht für alle, Verantwortung des Staates« zogen die Menschen mit den Bildern von »Verschwundenen« aus der Militärdiktatur (1973-1985) über die Allee 18. Juli in Montevideos Innenstadt.

Auf der Höhe des Rathauses wurden die Namen der rund 200 während des Militärregimes »Verschwundenen« aufgerufen. »Presente (Anwesend)«, schallte es aus der Menge zurück. Am 20. Mai 1976 wurde zwei Politiker und zwei Guerilleros in Buenos Aires ermordet, seit 1996 organisieren die »Mütter und Familienangehörigen der Verhaftet-Verschwundenen« alljährlich den Schweigemarsch gegen die Straflosigkeit.

Diesmal war er besonders eindrucksvoll, denn das Thema treibt die Uruguayer seit Wochen um. Am frühen Freitagmorgen hatte das linke Regierungsbündnis »Frente Amplio« (Breite Front) im Abgeordnetenhaus eine bittere Abstimmungsniederlage hinnehmen müssen. Weil der Parlamentarier Víctor Semproni nach einer 14-stündigen Debatte das Plenum verließ, kam es zu einem Patt von 49 zu 49 Stimmen.

Das von seinen Parteifreunden geplante Projekt, das im April den Senat knapp passiert hatte, wäre »nicht sicher« und würde zu »größeren Schwierigkeiten« führen, lautet die vage Erklärung des 74-jährigen Semproni, der wie Präsident José »Pepe« Mujica in der 70er Jahren der Tupamaro-Stadtguerrilla angehört hatte und in jahrelanger Haft gefoltert worden war. Während der Debatte protestierten über 2000 Menschen vor dem Parlament.

Das Amnestiegesetz sichert Polizisten und Militärs Straffreiheit für Menschenrechtsverletzungen zu, die vor dem 1. März 1985 begangen wurden. In zwei Referenden 1989 und 2009 war es knapp bestätigt worden, da für eine Ablehnung die absolute Mehrheit der Stimmen erforderlich gewesen wäre. 2009 hatte es der Oberste Gerichtshof für verfassungswidrig erklärt und damit den Weg für Einzelklagen freigemacht.

Vor zwei Monaten erklärte der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof, es widerspreche internationalen Rechtsstandards. Abgeordnete der rechten Opposition beanstandeten jetzt erneut, dass die Regierungskoalition »gegen den Willen der Bevölkerung« handle. Ähnlich hatte Präsident Mujica im Vorfeld argumentiert und deutlich gemacht, dass er die Annullierung des Gesetzes ablehnt, um die Militärs nicht zu brüskieren. Dass er am liebsten »nach vorne« schaut, ist bereits seit dem Wahlkampf vor zwei Jahren bekannt. Als er am Tag vor der Abstimmung öffentlich an Semproni appellierte, der Parteidisziplin zu folgen, nahm ihm das kaum jemand ab.

Der Dissident habe Mujicas »Politik der nationalen Versöhnung« gerettet, analysierte denn auch der Politologe Adolfo Garcé, zuletzt habe sich Mujica »sehr aktiv« gegen die Annullierung stark gemacht. Der Meinungsforscher Óscar Bottinelli bescheinigte dem Präsidenten »Führungsschwäche«. Umfragen zufolge ist sein Rückhalt bei der Bevölkerung von 75 Prozent beim Amtsantritt im März 2010 auf 41 Prozent abgesackt.

Parteifreunde bezeichneten das Patt im Parlament als »Pyrrhussieg« Mujicas, der den Ausgang öffentlich bedauerte: »Es ist schade, dass die Sache nicht abgerundet wurde«. Die Marschierer vom Freitagabend jedenfalls zeigten kein Verständnis für das Lavieren des Staatschefs. »Jetzt müssten einige Taube anfangen zuzuhören«, meinte sein früherer Kampfgenosse Jorge Zabalza, »aber wenn sie in der Lage sind, sich auf eine Bühne zu stellen, die von Bayonetten umzingelt ist, wie sollen sie dann die Mütter auf dem Bürgersteig gegenüber hören« – eine Anspielung auf die häufigen Auftritte Mujicas bei den Militärs.

Trotz der Niederlage im Parlament gebe es noch andere Wege, um das Amnestiegesetz außer Kraft zu setzen, hofft der Menschenrechtler Ignacio Errandonea und forderte die Öffnung der Armee-Archive. Mujica selbst wäre folgender Kompromiss am liebsten: Er könnte eine Strafverfolgung in 88 von Vorgängerregierungen blockierten Fällen per Dekret ermöglichen. Anschließend, hofft er, könne man sich mit der Opposition auf eine Aufhebung des Amnestiegesetzes einigen – aber ohne Rückwirkung, die neue Prozesse ermöglichen würde. Das wiederum lehnen die Menschenrechtler und seine eigene Parteibasis ab. Die Lage bleibt verfahren.

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