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Eine echte Schule für alle
Expertin Gerrit Große (LINKE) möchte im Zuge der Inklusion keine exklusiven Gymnasien mehr
ND: Ab 2019 sollen alle Kinder mit Förderbedarfen im Lernen – sowohl bei der Sprache als auch in der emotional-sozialen Entwicklung – in einer inklusiven Schule, also mit allen Kindern gemeinsam unterrichtet werden. Laut Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) braucht Brandenburg dann 1200 zusätzliche Sonderpädagogen. Stimmt das?
Große: Wir können noch nicht sagen, wie viele Sonderpädagogen dann benötigt werden und inwiefern sich die Profession der Sonderpädagogen bis dahin verändern muss. Noch gibt es kein Konzept für die inklusive Schule. Im derzeitigen System wird der Bedarf an Sonderpädagogen nur zu etwa 40 Prozent abgedeckt. Brandenburg bietet kein grundständiges Studium dafür an. Viele Lehrerinnen haben in den letzten Jahren ihre Weiterqualifizierung zum Sonderpädagogen selbst finanziert. Sie leisten eine sehr gute Arbeit im gemeinsamen Unterricht und an Förderschulen.
Ab 2012/13 planen wir die Ausbildung an der Universität Potsdam als inklusiven Studiengang. Auch Regelschullehrer brauchen sonderpädagogische Anteile in ihrem Studium. Die ersten Absolventen werden aber 2019 noch Referendare sein. Es bedarf also dringend einer Fortbildungsoffensive für die jetzt unterrichtenden Lehrkräfte.
Genügt es nicht, wenn die Lehrkräfte der 47 Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen, der sieben Förderschulen mit dem Schwerpunkt emotional-soziale Entwicklung und die Lehrkräfte in den Sprachförderklassen an die Regelschulen umgesetzt werden?
Das wird nicht ausreichen. In einer inklusiven Schule soll ja dem Förderbedarf aller Kinder entsprochen werden. Das muss auch zeitweilig in einer Kleingruppe oder sogar einzeln passieren. Dazu sind zusätzliche personelle Ressourcen, im übrigen auch ganz andere räumliche Möglichkeiten notwendig.
Die Klassen müssen auch kleiner sein. Bei 28 Kindern in einer Grundschulklasse kann niemand individuell gefördert werden. Die inklusive Schule ist nicht zum Nulltarif zu haben.
Tatsächlich soll das Bildungsressort aber ab dem kommenden Jahr mit 27 Millionen Euro weniger auskommen. Wie geht das?
Noch streiten wir darum in den Haushaltsberatungen und noch haben wir ja keine inklusive Schule. Wir wissen, dass Brandenburg in finanzieller Not steckt und alles tun muss, um keine neuen Schulden zu machen.
Nehmen wir an, es gibt kein zusätzliches Geld. Wäre es dann besser, auf die inklusive Schule zu verzichten und es bei den Förderschulen zu belassen?
Das ist aus Sicht der LINKEN und der SPD und auch aus Sicht der Grünen keine Option, zumal die Schülerinnen und Schüler der Förderschulen ja auch den Löwenanteil daran haben, dass Jugendliche die Schule ohne einen anschlussfähigen Abschluss verlassen. Wir brauchen die inklusive Schule, weil sie die Potenziale aller Kinder besser freisetzen wird.
Dazu allerdings muss es auch in der Gesellschaft einen Paradigmenwechsel geben im Umgang mit der Vielfalt der Menschen, eine »Willkommenskultur«. Da sind uns andere europäische Länder weit voraus.
Wenn die rot-rote Koalition für die Inklusion ist, die Oppositionspartei Grüne auch und außerdem die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – wo liegt das Problem? Welche Widerstände gibt es?
Es gibt Sorgen und Bedenken, die man ernst nehmen muss. Die Lehrkräfte in den Regelschulen fühlen sich unter den derzeitigen Rahmenbedingungen dieser schwierigen Aufgabe noch nicht gewachsen. Die Sonderpädagogen haben Sorge, die guten Bedingungen an den Förderschulen zu verlieren. Die Eltern haben Sorgen, dass der »Schutzraum« Förderschule wegfällt und ihre Kinder nicht stark genug für die Regelschule sind.
Wir können die inklusive Schule nicht von oben verordnen. Sie kann nur mit allen Akteuren zusammen entwickelt werden. Das braucht Zeit und Behutsamkeit. Derzeit finden dazu Regionalkonferenzen statt. Ich wünschte mir dort eine offenere Debatte.
Gibt es nicht auch die Befürchtung, dass leistungsstarke und besonders begabte Kinder in der inklusiven Schule unzureichend gefördert werden?
Die gibt es, aber aus meiner Sicht ist sie unberechtigt, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und die Lehrkräfte besser mit der Unterschiedlichkeit von Kindern umzugehen lernen. Dann profitieren davon alle Kinder. Es gibt da auch schon gute Erfahrungen zum Beispiel in der flexiblen Eingangsphase und einige Schulen sind schon seit Jahren offen für Kinder mit Förderbedarfen.
Mir fällt beispielsweise Glöwen in der Prignitz ein. Dort gibt es eine Schule, in der von Klasse 1 bis 10 auch circa 50 Kinder mit unterschiedlichen Förderbedarfen erfolgreich lernen.
Wenn ein leistungsstarker Zweitklässler einem Kind mit einer geistigen Behinderung die Buchstabenfolge am Computer erklärt, lernen beide, auch kognitiv, sozial sowieso.
In der Grundschule lernen ja bereits jetzt schon die meisten Kinder gemeinsam. Wie aber soll es danach mit der inklusiven Schule in Brandenburg weitergehen? Bleiben die Gymnasien außen vor und die Schüler mit besonderem Förderbedarf kommen allein an die Oberschulen?
Diese Gefahr besteht doch?
Das ist die spannendste Frage. Es wird in einem gegliederten Schulsystem keine Inklusion geben können. Wer wirklich inklusive Schulen will, kommt um die Gemeinschaftsschule nicht herum. Es geht auch nicht, dass man die inklusive Schule will und die vermeintlich allgemein begabten Kinder aussondert in Leistungs- und Begabungsklassen.
Inklusion meint alle Kinder, auch die, die ein Gymnasium besuchen. Eine Aufteilung in Bildungsgänge ist mit einer inklusiven Schule nicht vereinbar. Darum kann sich auch die Kultusministerkonferenz nicht herum mogeln.
Die LINKE in Brandenburg beschloss auf ihrem Landesparteitag im März, dass die Gemeinschaftsschule jetzt vorbereitet und ab 2014 eingeführt werden soll. Wie sieht es damit aus?
Wir sind im intensiven Gespräch mit unserem Koalitionspartner, der zögerlich ist und wohl eher am Zwei-Säulen-Modell Oberschule und Gymnasium festhalten möchte. Die Inklusionsdebatte wird hier eine neue Dynamik entfalten. Wir können unmöglich nur in Klasse 1 bis 6 die Kinder mit besonderen Förderbedarfen inklusiv unterrichten und sie dann ab Klasse 7 allein den Oberschulen zuweisen. Darüber hinaus werden wir ab 2019 wegen des demografischen Echos ohnehin mit einem neuen heftigen Rückgang der Schülerzahlen zu rechnen haben. Auch dafür ist im Flächenland Brandenburg die Gemeinschaftsschule die bessere Antwort.
Interview: Andreas Fritsche
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