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Schiefe Opfersicht
Kartierte Nationalgeschichte
Wenn es wahr ist, dass die Geographie das eine Auge der Geschichte ist, wie die Chronologie das andere, so muss die Karte bei jeder sich bietenden Gelegenheit im Geschichtsunterricht benutzt werden«, zitiert Sylvia Schraut ein über hundert Jahre altes didaktisches Werk und stellt diesen Satz als Motto über ihre »Kartierte Nationalgeschichte«. Die Professorin der Universität Mannheim und der Bundeswehr in München vergleicht Geschichtsatlanten aus Deutschland, Österreich, England und den Vereinigten Staaten über den Jahrhundertzeitraum von 1860 bis 1960. Entstanden ist eine in mehrfacher Hinsicht reizvolle Studie.
Die sich im Geschichtsatlas vollziehende Symbiose von Geografie und Geschichtswissenschaft ist bisher selten beschrieben oder gar untersucht worden. Der diachrone Vergleich der verschiedenen Ausgaben des in Deutschland dominierenden »Putzger« über ein Jahrhundert, über Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und frühe Bundesrepublik beweist die Abhängigkeit der Geschichtsatlanten vom jeweiligen Geschichtsbild. Die in Deutschland vorherrschende staatliche Lehrplanvorgabe macht diese Abhängigkeit noch augenfälliger. In den angelsächsischen Ländern, die erst Jahrzehnte nach den Deutschen Geschichtsatlanten entwickelten, ist das eher privat organisierte und kaum staatlich gelenkte Schulwesen unabhängiger von obrigkeitlicher Einflussnahme. Wenn hier die »Gesetze des Marktes« zu ähnlicher Parallelität von Geschichtsatlanten und dem Mainstream der jeweiligen Historiographie geführt haben, ist das wenigstens eine interessante Feststellung.
Besonders hat die Verfasserin die bis zum Ende ihres Untersuchungszeitraums 1960 vorherrschende Opfersicht des Zweiten Weltkrieges im deutschen »Putzger« herausgearbeitet. Damals wurden z. B. Luftkriegsopfer kartografisch dargestellt, die Opfer der Nazis und der deutschen Angriffskriege aber blieben ausgeblendet. Leider fehlt in diesem Buch jeglicher Hinweis auf Geschichtsatlanten in der DDR.
Der späte Übergang von eurozentrierter bzw. anglo-amerikanischer Sicht bei Atlanten ist bezeichnend für das Hinterherhinken kartographischer Geschichtsdarstellungen hinter dem Paradigma der Globalisierung. Der hohe Aufwand, den die Erstellung neuer Karten verursacht, erklärt nur einen Teil dieser »Rückständigkeit«. Wenn es wirklich zutrifft, dass der Geschichtsatlas »in einem durchaus ernst zu nehmenden Sinne selbst Geschichte macht und das Geschichtsbild von Generationen von Schülern vielfach beeinflusst« (Putzger, Festschrift von 1985), dann scheint es unverzeihlich, dass diesem Medium bislang eine so geringe und kaum kritische Aufmerksamkeit gewidmet wurde.
Sylvia Schraut: Kartierte Nationalgeschichte. Geschichtsatlanten im internationalen Vergleich 1860 – 1960. Campus, Frankfurt am Main/New York. 568 S., geb., 68 €.
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