Der Döner zweier Herren
Herbert Fritsch inszenierte in Schwerin Goldoni
Irgendwann ist einem das Stück egal, aber dies Urteil bedeutet keine Absage an die Unternehmung. Irgendwann weiß man, wo es langgeht, aber daraus folgt nichts weniger als Langeweile.
Carlo Goldonis »Diener zweier Herren«, Commedia dell'arte pur, von Herbert Fritsch am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin inszeniert: die Geschichte von Verwirrungen und Verwechslungen, von Weiblichkeit in Männerkleidung, von Leidensbriefen und Liebesprüfungen, von Truffaldino, der als Diener just zwischen jenen beiden lavieren muss, die füreinander bestimmt sind, sich allerdings erst nach drei Akten der wüstesten Wirklichkeitsverkennungen in die Arme fallen. Dies, nachdem jeder mal in Ohnmacht oder einem anderen aus Würgezwecken an den Hals fiel.
In neunzig Minuten entfaltet sich ein derbes Spiel, das sich der Derbheit doch keine Sekunde lang schämt, und gerade dies verleiht der Aufführung eine schöne Natürlichkeit mitten im Aufgeziegelten, eine strahlende Geradlinigkeit mitten im Aufgedrehtsein.
Es ist basisdemokratisches Theater: Jeder darf alles, und siehe da, alle können vieles, ob sie nun Brighella oder Pantalone, Smeraldina oder Dottore heißen. Die Freiheit des Ungebärdigen feiert ein wildes Fest. Wo Heldenspieler mit edlem Anstand ihre Körper bewegen, die gestaltenden Hände anmutig heben und das mimische Faltenspiel ihrer Gesichter noch im höchsten Schmerz eine anmutige Symmetrie hat, dort ranzen und wanzen sich Fritschs Chargen ruchlos an; sie küssen mit Knall auf beide Backen und singen sich durch alle Klischees italienischer Ramazottligkeiten und Ramazotigkeiten; sie trällern mit unendlich langer Atemstütze, bis auch der Letzte mit dem letzten Ton einen Erstickungstod mimen kann; sie dröhnen »Amore, amore« und verschonen beim Dauerkuss-Finale auch Zuschauer nicht; sie spielen mit Finger- und Lippenlecken das große Pudding-Fressen – bis in den Rausch eines Völlegefühls hinein, das sich zum ungenierten Furzkonzert steigert.
Wenn einer dem anderen Händel androht, erklingt Händel. Wenn es um alle geht, wird das »jedermann« herausgetönt, als rufe der Tod auf Salzburgs Domplatz den Helden von Hoffmannsthal (dessen »Jedermann« derzeit auch in Schwerin aufgeführt wird, also: Zusatzlacher!). Wo im Textkunsttempel, wie vor Gericht, nichts hinzugefügt und verschwiegen werden darf, da wird bei Fritsch am Text pointensüchtig und -sicher gezerrt, gewitzelt, verdreht und wortgespielt. Bis der Diener der Döner zweier Herren ist.
Manchmal stehen die Figuren dieses Tollhauses im tiefen Bühnengrund, Schatten hinter hoher, farbig gestreifter Wand, wie Scherenschnitte; sie stehen dort, als ruhten sie sich für Momente aus von all der Raserei und träumten dort einer stillstmöglichen Ernsthaftigkeit nach. Ehe sie vom Fritsch-Furor, der ihr eigener ist, wieder hinausgejagt werden aufs Schlachtfeld, das ein Schlag-auf-Schlag-Feld ist. Wo Sinn aufblüht, saust die Non-Sense wie eine Guillotine – kein Kopf hat hier Zeit und Gelegenheit, lastig zu werden.
Das singt und jauchzt und rennt und fällt und kriecht und gebärdet sich, und alles Holde und Hehre und Heilige geht ausgelassen den strömenden Bach runter, den die unzähligen Schweißtropfen der Darsteller bilden. Es ist ein drall- und dampfdreister Streichel-Zoo, der Affe hat Zucker, die Sau darf raus, alle Vögel sind schräg, keine Kuh will hier vom Eis. Monty Python trifft Heidi Kabel, Dick und Doof mischen das Millowitsch-Theater auf, und der Schwank schwankt nicht nur, er dreht sich wie ein Brummkreisel. Der aber keine Peitsche braucht – Spiellust ist der größere Treibstoff.
Die Damen und Herren Lembcke, Kühn, Schneider, Platte, Köhli, Bieligk, Peters und Maeder sind Stil-Gezeichnete, konkreter noch: Slapstickmatisierte. Ein Spiel wie ein Auferweckungserlebnis. Sonja Isemer gibt die Beatrice, das Mannskleidermädchen: kieksend und schrittgriffkeck und tanzmotorisch in Michael-Jackson-Art und -Anzug (und Hut). Eine bezaubernde, kraftbübische Diva zwischen Schmiss und Schmachten. Ihren Liebhaber spielt Florian Anderer grandios gummibiegsam bis in alle Gesichstzüge hinein. Und sensationell komisch, pantomimisch, schrill, schnell, kabarettistisch: Jakob Kraze als hungriger, abgehetzter, feilschender, fliehender, taktierender Truffaldino – sähe Dieter Hallervorden diesen Kraze, gäbe er sofort ein Schuldgeständnis ab, nur eine Kopie seiner selbst zu sein. Und am Flügel John R. Carlson, ein langhaariges Fracktotum von wunderlicher Puppenstarre – und umso größerer Trefferquote tollster Töne.
Das Stück ist egal? Stimmt ja nicht! Sein Kern leuchtet in der energieprallen Verausgabungskunst dieser elf Schauspieler. Fritsch zeigt den fehlerhaften, unvollkommenen Menschen, der seine Schwäche in der Gesellschaft nur offenbaren darf, wenn er als Komiker auftritt. Und der sich also doppelt erniedrigt – real und in jener Maske, die ihm Schutz sein soll, ihn aber doch kenntlicher macht denn je. Der ver-rückte Mensch erregt aufgrund einer bestimmten Missratenheit in der Welt mehr Unbehagen als Lust. Fritsch gibt ihm krass aufblinkende Würde zurück, gibt ihm, mit Goldonis Vollmacht, einen großen, leeren Bühnenraum, den er nach Herzenslust bespringen darf. Wo die Solidarität gewöhnlich aussetzt und Schadenfreude sich austobt, weil einer das geliebte Mädchen verpasst oder Prügel bekommt oder weil das Fette, Klobige geräuschvoll auf die Butterseite fällt – da besiegt Fritsch alles Verachtungsgeladene im Menschen, indem er es in besinnungslos lustigen Spuk und Irrsinn verwandelt.
Man kann Stücke so oder so spielen. Man kann ja auch den Kaffee mit dem Messer umrühren, das Messer am Brot abwischen, und dann schmeckt das Brot eben nach Kaffee. Jeder Geschmack, der verletzt, bereichert die Welt doch auch um einen neuen Geschmack. Allem muskulösen oder intellektuellem Gewerbefleiß sagt Herbert Fritsch heiter den Kampf an. In den Galoschen des alltäglich Katastrophischen hoppelt seine Komödie die Treppe zum Glück hinauf. Man nennt das: Glücksspiel. Verboten? Nur für allzu Erwachsene.
Nächste Vorstellung: 24. Juni
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