Hermann Kant: Ein Vorkommnis
Die Geschichte »Ein Vorkommnis" wurde dem ND von Hermann Kant als Erstveröffentlichung zur Verfügung gestellt.
Um der Stimmung zu entgehen, in die mich ein Doppel aus technischem und menschlichem Versagen zu drängen drohte – ich war mit dem Drucker nicht zurechtgekommen und las es als Demenzsignal –, wollte ich die Arbeit vorerst meiden. Wollte im Freien ein Buch lesen, das ich erworben hatte, weil es auf seiner ersten Seite über jemanden hieß, er sei »greener than Greenpeace«. Grüner als Greenpeace, so mag ich die Späße. Anders wird es auch dem Übersetzer nicht gegangen sein: Bei sparsamem Vokabelwechsel blieb ein weltbezogener Witz erhalten. Mit dem Wortspiel war die Figur für mich da, und meine Hoffnung ging, ähnlich werde es über 562 Romanseiten bleiben. So frohgemut, so anspruchslos fangen jetzt meine Leben an.
Im Schatten des Strohdachs ließ es sich aushalten, obwohl vom See her und durch die Bäume an seinem Rand nicht das geringste Lüftchen wehte. Ich fand erstaunlich, wie lange Gott den Atem anhalten kann, fragte mich aber, was denn nicht erstaunlich an dieser durablen Erfindung sei. – Weil Hitze und Müdigkeit selbst den unterhaltsamsten Roman besiegen, passte ich den Rücken vorsichtshalber fest ins Peddigrohr des Sommersessels und zog ohne hinzusehen ein Stühlchen heran, das seit langem zum Haushalt gehört und müden Beinen eine Stütze ist.
Anstatt auf der Lehne des Stuhls oder auf dessen Sitzfläche landeten meine suchenden Finger auf etwas unbekannt Unangenehmen, und Ungesehenes bezeugten mir meine Augen. Ein Lebewesen lag leblos auf dem Sperrholz und war mir, tot oder lebendig, gänzlich unvertraut. Gäbe es Kolibris in meinen Breiten – es gibt sie seit dreißig Millionen Jahren nicht mehr, weshalb man ein Fossil dieser Art, das sich überraschend bei Heidelberg fand, Eurotrochilus inexpektibus getauft hat –, gäbe es hierorts noch Kolibris, hätte ich in der Kreatur auf dem Schemel ein anthrazitfarbenes Exemplar davon vermutet. Gern sogar, weil Politisches mir in allen Zweigen wohnt und mein Nachschlagewerk einen Kolibri kennt, der kubanische Bienenelfe heißt. Er sei der einzige Vogel unterm Himmel, las ich, der rückwärts fliegen kann. Was er können muss, weil er anders verhungerte. – Ach, Genossen, rief ich an dieser Stelle meinen karibischen Genossen zu, von der kubanischen Bienenelfe sollt ihr siegen lernen!
Und hole mich nun an den See in Mecklenburg-Strelitz zurück. Zu der Ziegelfläche vor meiner Hütte und einem Stuhl, auf dem etwas liegt, das kein Kolibri, sondern eine unerwartet kleine Fledermaus ist. Eine Zwergfledermaus vermutlich, die lateinisch, ich habe es nachgeschlagen, Pippistrellus Pippistrellus heißt. Worin ein unmöglicher Anklang zu Pippi Langstrumpf steckt. Oder handelt es sich um eine Mückenfledermaus, lat. Pippistrellus pigmaeus? Oder um ein Jungtier dieser oder jener Familie? Ein Minitier ist es jedenfalls. Ein Pippistrellus strelitzius vielleicht, dem anstelle eines Federkleides ein fedriges Fell gewachsen ist. Dazu ein Schnabel, der winzig und gemein aussieht. Und Flügel, deren technisch ausgefuchste Faltung mir bekannt vorkommt. Nein, die ich kenne. Von Batman kenne ich die.
Klein-Batman ist mir zugeflogen. Ist, ob nun vorwärts oder rückwärts, ob nach Hitzschlag oder Einschlag einer Schreckensmeldung aus der Kanzlerinnenkammer schräg vom Strohdach gerutscht und senkrecht auf meinen Hilfsstuhl gefallen.
Da liegt das weniger als jungmausgroße sogenannte Mausohr und macht nicht piep. Tonlos und allem mir bekannten Tiermaß fern, liegt es auf dem Stühlchen. Größer als die allergrößte Hornisse, mit der ich, der ich keineswegs grüner als Greenpeace bin, im Dorfe P. feindseligen Umgang hatte. Viel kleiner als die kleinste Zwergmeise, aber mit Flünken, hochdeutsch Flügeln, ausgestattet, wie die Meise. Etwas ausladender als eine ägyptische Heuschrecke, denke ich, und ebenso hässlich wie diese fresssüchtigen Hüpfer. Vielleicht hat der ungebetene Gast die Spannweite jenes Großschmetterlings, der letzte Nacht, ebenfalls ungebeten, denke ich, immer noch etwas verbittert, sehr störend, ja verstörend gar, in meine Schlafkammer kam, aber im Augenblick ist er nichts als ein lebloses dunkelfarbenes Bündelchen. Eines mit Krallen.
So wenig feststeht, welch Wesen dieses Wesen ist, so steht doch fest, auf meinem Schemel ist es nicht am Platze. Unschlüssig, ob ich Batmans kleine Schwester beerdigen oder einem Institut einschicken soll, schütte ich ihren verirrten Rest mit Schwung ins Gras. Tagsüber kommen hier Katzen vorbei; nachts rüsselt ein Wildschwein hinterm Haus. Oder die Ameisen beginnen einen heroisch langen Marsch zum nährenden Kadaver, der vom Himmel gesandt aufragt aus der Ebene.
Rascher als ich in dieser Stunde am See von P. ist, denke ich, selten einer von der Natur in die Kultur gesprungen. Vom Blick auf den flederigen Rest zum Blick zurück ins flotte Buch, in dessen erstem Satz die New York Times angemessen umwegig gerühmt wird. In einen Roman, der über alles hinaus auch noch Freedom, also Freiheit heißt. Nur kam ich zwar vom ersten in den zweiten Absatz, aber nicht mehr in den dritten hinüber. Weil sich dort im Gras, wo die eben vom Stuhl geschüttete abgelebte Kleinstfledermaus lag, etwas rührte, das kein Zeichen von Abgelebtheit war. Zuerst wurde der eine ausgepichte Batmanflügel von Hand bis Fuß ausgefahren, dann der andere, und gleich darauf bahnte sich ein Auftakt zum Tanz der Vampire an.
Ich gestehe, nicht gewusst zu haben, was tun. In einem anderen Jahrtausend war mir zwar eine Möwe begegnet, die im Eise ähnlich erschreckend wie jetzt das Mäuschen mit den Flügeln schlug, doch gab diese Erfahrung für den Umgang mit Pippistrellus Pippistrellus wenig her. Was jedoch meine Erinnerung an den Schwaps branntweinverschnittenen Wassers nicht ausschloss, mit dem ich damals den geretteten Flieger für seinen Flug in die Freiheit zu stärken vermochte. Nur zählte das jetzt gestrandete Flügelwesen trotz seines finsteren Aussehens nicht zu den Vögeln oder gar Raubvögeln, sondern hatte als gesitteter Säuger zu gelten, dem man wahrscheinlich, wer wusste schon Genaues, mit Rauschmitteln besser vom vorzeitlichen Leibe blieb. Wasser hingegen, das ein Element war, dem er, ich und alle anderen unsere Herkunft verdanken, konnte ihm keinesfalls schaden.
Keinesfalls? Ich wusste es nicht. Man liest so viel, doch vom Nötigen liest man nicht genug. Um aber das eher mücken- als elefantengroße Fledermäuschen, zu dem der Hollywood-Name E. T. halbwegs passen wollte, selbst zwischen reinem Wasser und keinem Wasser entscheiden zu lassen, war ich weder grün noch liberal genug. Da es kein mir bekanntes linkes Wort in der Sache gab, blieb nur eine halblinke Tat. So feinfühlig es eben ging, bugsierte ich das leise zappelnde Lebewesen auf die Handeule sprich Müllschippe, legte diese schräg ins Gras am Terrassenrand, goss Wasser in die Schaufelecke, die dem Havaristen am nächsten war und ließ es dessen Sache sein, sich auf seinen Zustand und auf das Nass in seiner Nähe einen Reim zu machen.
Wieder den Rücken im großen Stuhl, wieder die Füße auf dem kleinen, wieder den Kopf im dicken Buch, wieder den Blick mitten im romangewordenen Minnesota-Menschen-und-Umwelt-Dasein; da mochte die Kreatur von nebenan oder von außen und oben her gefälligst nach sich selbsten sehn.
Tat sie auch. Scherte sich nicht ums Wasser, um Literatur oder das Leben anderer, zeigte ihr eigenes an, reckte die vertrackten Drachenflügel, tat einen ungelenken Sprung von der Haushaltsschaufel dem Hause zu, wiederholte das Manöver eins ums andere Mal und lag endlich still auf dem borstigen Fußabtreter vorm Eingang in meine Hütte. Ob nur ermattet oder mit der naturwüchsigen Unterlage zufrieden, konnte ich dem Hänfling auf handgeflochtenem Bast nicht ansehen, war aber froh, beim Besenbinder auf dem Markt keine Matte mit dem eingearbeiteten Grußwort Salve! erworben zu haben. Denn ob mein Pippistrellus pigmaeus nun ermattet vom Dach gefallen oder wie E. T. auf dem falschen Stern gelandet war, von Grüß dich! konnte meinerseits nicht die Rede sein.
Wenn schon eingewebt, hätte Scher dich! oder Hau ab! meiner Einstellung eher entsprochen, doch galt das wahrscheinlich als unkorrekt. Da spielte es schon keine Rolle, ob Pippus, das Findelwesen, überhaupt lesen konnte; eine Rolle spielte nur, dass es mir vor der Schwelle ungelegen kam. Ich nahm das Flechtwerk, auf dem sich die zahnschnäbelige, spitzkrallige, cabrioflügelige Flugmaus wie zu längerem Verbleib hingelagert hatte, hielt den Sohlenreiniger wie man ein Kuchenblech mit Backzeug hält, das man wegen Ungeratenheit der Vogelwelt zuwenden möchte, und ermaß eine Kurve, die erdkrümmungsnah genug sein mochte, um die besuchsweise Findelmaus unverwundet im Gras landen zu lassen. Doch kaum schien die nötige Neigung erreicht, spreizte das liliputanische Flugtier jäh seine verteufelt pfiffigen Schwingen und flog mir von der Schippe.
Wobei sein Abgang längst nicht das Ende der Vorstellung war und ich nicht deren einziger Besucher. Außer meinen sind andere Augen der flatterhaften Bahn gefolgt, auf der sich mein zeitweiliger Gast wie ein windgebeutelter Doppeldecker den Bäumen am Seerand näherte. Während ich nicht wusste, ob seine weniger batmanartigen als butterflyhaften Bewegungen nur von geschwundenen Kräften zeugten oder von seinem Willen, einem lauernden Jäger kein festes Ziel zu bieten, zeigte sich eben der in der Lage, aus Größe und Geschwindigkeit des zappelnden Flugobjekts auf dessen Essbarkeit zu schließen. Auf seine Fressbarkeit natürlich. Auf Erlangbarkeit vor allem.
Wenn man von Fledermäusen spricht, ist gleich vom Radar die Rede, mit dem sie bestückt sein sollen. Zu der Frage, ob dies Ortungssystem auch zur Grundausstattung der gemeinen Elster gehört, las ich nichts, halte es aber für gegeben, seit ich sah, was vor meinen nun doch sehr grünen Augen mit dem Flugobjekt E. T. Pippistrellus geschah. Beinahe torkelig, als habe allein schon die bloße Erwägung stärkender Getränke seine Flugtüchtigkeit beeinträchtigt, schwankte es der Eiche zu, die im Verein mit Erlen und Weiden den Baumbestand am Seeufer bildet. Strebte zwar ersichtlich, machte jedoch tödlich wenig Progress.
Tödlich war ihm die Elster. Sie muss meinen Maßnahmen zugunsten des Flatterhäuters aus einem Wipfel zwischen See und Haus zugesehen haben. Und hat sich vermutlich eins gelacht, als sie mich mit dem Fledermäuschen und mit Wasser und Schaufel hantieren sah. Hat wohl im Vorgenuss geschmatzt, als Jung Fledderhand und ich, sie auf meiner Matte, ich am Terrassenrand, zum Trägerstart rüsteten. Hat dem Flugversuch der Fledermaus, die ihrer Umrisse wegen Fledermausi hätte heißen sollen, mit ähnlichem Behagen beigewohnt wie ich es von Wiederholung zu Wiederholung mit dem Flug der Phönix im Lichtspiel der Herren James Stewart und Hardy Krüger halte. Hat sich bestimmt, wenn auch nur innerlich, gekugelt bei Pippis verwackeltem Tontaubenkurs, hat dessen jähe Zuckungen zu einer Linie ausgezogen, hat diese dem Rechner eingegeben und sich abgefeuert wie eine Kugel. Als gehe es darum, mir, der oft zeitsparende Umwege sucht, wieder einmal vor Augen zu führen, dass gerade Wege doch die kürzeren sind.
So wenig der grässlich kurze Flug des geflederten Phönix mich hindern wird, auch forthin günstige Landwege nach Indien oder schnellere Routen von meinem P. nach Barlachs Güstrow zu suchen, so sehr besorgte er doch, dass ich seither in jeder gewöhnlichen Elster eine ganz gemeine sehe. Und mich als einen, der es an Umsicht fehlen ließ, als es darauf angekommen wäre. Wieder einmal. Dabei hätte es des Todes der minderjährigen Flattermaus gar nicht bedurft, um mich am grellen Tag in düstere Laune zu versetzen. Das hatte in der Nacht ein anderes fliegendes Wesen und ein Anflug von Sterben bereits gründlich zuwege gebracht.
ND: Für Leser, die es noch nicht wissen – vielleicht doch mal ein Wort zum Handlungsort P. und zum Autor, der sich dort keine Rentnerruhe gönnt...
Kant: Prälank ist der dörflich abgelegene Ortsteil von Neustrelitz, in dem ich seit 1994 wohne. Ich nenne ihn hier »P.«, weil Erlebtes zu Erzähltem geworden ist und postalische Genauigkeit nichts zur Sache tut. Der Platz ist zwar wie für die »Rentnerruhe« gedacht, nur kommt dieser Zustand in mir nicht auf.
Fledermaus sei Dank – eine Geschichte ist entstanden. Suchst du das Erstaunliche, wartest du darauf?
Nein, ich suche nicht das Erstaunliche; es geschieht mir. Wartete ich darauf, ginge es wohl wie mit dem Wasser, das niemals kochen will. So aber hagelt es Berichtenswertes und verhagelt mir die Idylle. Was mir, der ich Langeweile fürchte, nur recht sein kann. Hüten werde ich mich, den Leser zwingen zu wollen. Es geht mir darum, ihn an des Schreibers Erlebnis teilhaben zu lassen. Und an dessen Mühe, zu Tod und Leben das richtige Wort zu finden. Eine Mühe, die das blanke Elend und das reine Vergnügen ist.
Hast du »Freedom« von Jonathan Franzen – 562 Seiten im amerikanischen Original – inzwischen zu Ende gelesen?
Ja, ich habe »Freedom« zu Ende gelesen, kann jedoch den Enthusiasmus diverser Rezensenten nicht teilen. Einer allerdings hat den Roman eine Seifenoper genannt. Hätte er »eine kunstfertige Seifenoper« gesagt, stimmte ich ihm vorbehaltlos zu. – Natürlich bin ich längst ein paar Bücher weiter und habe Ken Folletts unverschämten Geschichtsschmöker »Fall of Giants« (Sturz der Titanen) ungeniert verschlungen. Ich warne Linke wie mich aber. Im weiteren Teil seiner Trilogie wird uns der Autor noch furchtbar Saures geben.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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