Durch Leibesübung waffenfähig und wehrhaft

Vor 200 Jahren eröffnete Friedrich Ludwig Jahn den ersten deutschen Turnplatz

  • Martin Küster
  • Lesedauer: 5 Min.
Turnvater Friedrich Ludwig Jahn
Turnvater Friedrich Ludwig Jahn

»Von dem Unterzeichneten ergeht ein Antrag an den Reichsminister des Inneren, ob die Reichsgewalt keine entscheidenden Schritte gegen das wühlerische Treiben der kommunistischen Vereine der sogenannten Radikal-Demokraten thun will (Heiterkeit), die eine Verschwörung gegen Ordnung, Recht und Freiheit bilden und es auf einen blutigen Bürgerkrieg anlegen.« So ist es im stenografischen Protokoll der 66. Sitzung der deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt am Main vom 25. August 1848 nachzulesen. Der Name des Abgeordneten, der den Antrag stellte: Friedrich Ludwig Jahn, der »Turnvater« der Deutschen.

Vor 200 Jahren, am 19. Juni 1811, hatte Jahn in der damals noch außerhalb Berlins liegenden Hasenheide den ersten Turnplatz eröffnet. Ein sehr bewegtes Leben liegt da schon hinter dem am 11. August 1778 in Lanz bei Lenzen in der Prignitz geborenen Pfarrerssohn. Ein Dutzend Semester, zunächst der Theologie, dann Philosophie, hatte er an verschiedenen Universitäten studiert, wegen seines oppositionell-aufbrausenden Verhaltens und studentischer Geheimbündelei immer wieder relegiert. 1802/03 hatte er in Greifswald im damals schwedischen Vorpommern täglichen Umgang mit dem Geschichtsdozenten Ernst Moritz Arndt. Später in Jena erlebte er die vernichtende Niederlage des preußischen Heeres durch Napoleons Truppen am 14. Oktober 1806. Vier Jahre darauf bewirbt sich der ohne akademischen Abschluss Gebliebene in Berlin um ein Lehreramt. Er besteht die Prüfung nicht und soll erst einmal ein Jahr lang pädagogische Erfahrungen sammeln. Die gewinnt er in Berlin am Gymnasium zum Grauen Kloster und an der Plamannschen Erziehungsanstalt. Dort schließt er Freundschaft mit dem Lehrer Karl Friedrich Friesen, der zu seinem Hauptverbündeten beim Aufbau der Turnbewegung wird.

Mit einer wachsenden Zahl von Schülern des Grauen Klosters zieht der Hilfslehrer Jahn ab Sommer 1810 an unterrichtsfreien Nachmittagen in die Hasenheide. Reckübungen bringt er ihnen vorerst an den waagerechten Ästen einer Eiche bei. Zu den Schülern stoßen zunehmend Studenten und Erwachsene aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Die Zahl der eingetragenen Turner steigt von rund 200 im Sommer 1811 auf 500 im darauf folgenden Sommer. Der Turnplatz muss laufend erweitert werden. Unter denen, die ihn besichtigen, ist auch Arndt.

Geländespiele ergänzen die Leibesertüchtigung am Gerät. Einer ihrer Teilnehmer, Eduard Dürre, erinnerte sich: »Da galt es sich orientieren, Vorteile gewinnen und wachsam sein. Eine vortreffliche Vorbereitung auf den Vorposten- und Patrouillendienst, wie ich aus Erfahrungen im Felde bezeugen kann, zugleich eine stete Mahnung an den bald bevorstehenden großen Krieg im Dienste des Vaterlandes.« Das ist in Jahns Sinne: »Erst wenn alle wehrbare Mannschaft durch Leibesübung waffenfähig, streitbar durch Waffenübungen, schlagfertig durch erneuerte Kriegsspiele und Immergerüstsein, kriegskühn durch Vaterlandsliebe – kann ein solches Volk ein wehrhaftes heißen.« Dies hatte er bereits in seiner 1808 im heimatlichen Lanz vollendeten umfänglichen Schrift »Deutsches Volksthum« formuliert. Das erstmals 1810 in Lübeck, dann 1813 und 1817 in Leipzig neu verlegte Bekenntnisbuch verschreckt durch seine bis ins Abstruse gesteigerte ahistorische Deutschtümelei und seinen Hass gegen alles Französische.

Als Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. in Breslau am 3. Februar 1813 der Bildung freiwilliger Jägerdetachments zum Kampf gegen den Kaiser der Franzosen zustimmt, ruft Jahn seine Turner auf. Und sie folgen seinem Ruf.

Nach dem Sieg über Napoleon kehrt der »Tunrvater« Anfang April 1814 nach Berlin zurück. General Neithard v. Gneisenau erreicht, dass der Stellungslose wegen seiner patriotischen Verdienste einen Ehrensold von 500 Talern jährlich erhält. Jahn kann nun endlich seine Neubrandenburger Verlobte heiraten – und den Turnplatz in der Hasenheide weiter ausbauen. Dort findet am 18. Oktober 1814, dem Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig, eine große Feier mit Turnvorführungen, Ansprachen und Gesängen statt. Das »volksthümliche« Turnen verbreitet sich über Preußens Grenzen hinaus. Das von Jahn und dem Ex-Lützower Ernst Eiselen verfasste und auf eigene Kosten 1816 herausgegebene Lehrbuch »Die Deutsche Turnkunst« ist viel gefragt.

Jahn, dem weiterhin eine Anstellung als Dozent verweigert wird, hält von Januar bis April 1817 in Berlin 21 private Vorlesungen über »Deutsches Volksthum«. Er wettert über die nach dem Wiener Kongress einsetzende politische Restauration, kritisiert den Deutschen Bund, jenes Fürstenbündnis, das sich der Niederhaltung aller Bewegungen verschrieben hat, die auf bürgerliche Umwälzung und nationalstaatliche Einigung zielen. Unter Jahns begeisterte Zuhörer mischen sich offenbar auch Zuträger des Direktors im preußischen Polizei-Ministerium, Geheimrat v. Kamptz. Der zählt Jahn zu den geistigen Drahtziehern des Wartburgfestes 1817, wo auch Kamptz’ »Kodex der Gendarmerie« symbolisch dem Feuer übergeben worden war. Er lässt den Kultusminister im Februar 1818 bei Staatskanzler v. Hardenberg anfragen, »was mit diesem Mann anzufangen sei. Ich bin überzeugt, daß er ein höchst gefährlicher Mensch ist, und Maßregeln gegen ihn sind dringend nötig, mehr als gegen jeden anderen.«

Der Turnplatz in der Hasenheide wird geschlossen, das Turnen in Preußen für staatsfeindlich erklärt und unter Strafe gestellt. In der Nacht zum 14. Juli 1819 verhaftet die Polizei Jahn in seiner Berliner Wohnung. Auf der Festung Kolberg erfährt er das Urteil des Berliner Kammergerichts: zwei Jahre Festungshaft. Gegen dieses Urteil legt er Berufung ein. Am 15. März 1825, fünf Jahre und acht Monate nach seiner Verhaftung, spricht ihn das Frankfurter Ober-Landesgericht frei. Doch eine allerhöchste Kabinetts-Ordre vom 4. Mai 1825 verfügt: Der Freigesprochene darf in aller Zukunft keinen Wohnsitz in Berlin und im Zehn-Meilen-Umkreis nehmen, auch nicht in einer Stadt mit Universität oder Gymnasium.

Mit seiner zweiten Ehefrau – die erste war 1823 in Kolberg verstorben – zieht Jahn nach Freyburg an der Unstrut im preußischen Regierungsbezirk Merseburg. Die über Jahn verhängte Polizeiaufsicht funktioniert. Wegen Umgangs mit Merseburger Gymnasiasten verbannt Berlin den Ungehorsamen ins Ackerstädtchen Kölleda und sperrt ihm die Pension. Jahns heftige Gegenbeschwerde trägt ihm sechs Wochen Festungshaft in Erfurt ein. Erst nach sieben Jahren Kölleda darf der völlig Verschuldete wieder nach Freyburg ziehen.

Der oberste Verfolger der »Demagogen« und Turnfeind Friedrich Wilhelm III. stirbt am 7. Juni 1840. Sein Thronnachfolger erlässt eine Amnestie, die auch Jahn zugute kommt. Das Turnen ist in Preußen ab 1842 wieder zugelassen. Den 70. Geburtstag Jahns feiern Turner nicht nur in der Berliner Hasenheide. Das war 14 Tage vor der eingangs zitierter Anti-Kommunisten-Interpellation in der Nationalversammlung.

Vier Jahre darauf starb der Antikommunist. Das zu seinem 20. Todestag 1872 am Nordrand der Berliner Hasenheide enthüllte sechs Meter hohe Bronzestandbild überlebte die Zeitläufte.

Der erste deutsche Turnplatz in der Berliner Haseneide in den 1820er Jahren.
Der erste deutsche Turnplatz in der Berliner Haseneide in den 1820er Jahren.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus: