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Neue Zwänge treffen neue Freiheiten
Mobiltelefone verändern unseren Alltag tiefgreifend
»Ohne« ist man heute out und fast schon ein Urgestein aus einer vergangenen Zeit, so wird einem suggeriert. »Ohne«, so heißt es zumindest unter jungen Leuten, sei man schwer erreichbar und es sei kompliziert, sich zu verabreden. Zweifelsohne haben viele Menschen ihre Alltagsroutinen verändert. Es stellt sich aber durchaus die Frage, ob die Vision einer mobilen, flexiblen Kommunikation nur ein leeres Versprechen ist und in Wahrheit zu Sklaven der neuen Technik geworden sind. Bringt das Mobiltelefon Freiheit oder kontrolliert es uns und macht uns kontrollierbar? Am Ende vielleicht beides?
In den Anfängen der Geschichte des Telefonierens musste das Fern-sprechen regelrecht erlernt werden. So gab es detaillierte Anleitungen in Telefonbüchern, und aus der Schweiz ist überliefert, dass Jugendliche in den 1930er Jahren im Schulunterricht das Telefonieren einübten – eine Kulturtechnik, die Kinder heute mit dem Spracherwerb wie selbstverständlich von den Erwachsenen übernehmen. Dabei war der Weg des Telefons in den Alltag und in die Privathaushalte aller Bevölkerungskreise keineswegs vorgezeichnet.
Im Jahr 1861 hatte Philipp Reis Mitgliedern des Physikalischen Vereins in Frankfurt den ersten Telefonapparat der Welt vorgeführt, und zwar mit der legendären Durchsage: »Die Pferde fressen keinen Gurkensalat.« Auf der Reis'schen Grundlage entwickelten Alexander G. Bell und andere das Telefon weiter, so dass Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Telefonleitungen verlegt werden konnten. Zwanzig Jahre nach Reis' erfolgreicher Vorführung nahm die erste Berliner Telefonstelle mit gerade einmal acht Anschlüssen die Arbeit auf. Ein halbes Jahr später war die Anzahl der Berliner Teilnehmer auf 187 angewachsen. Zur Jahrhundertwende verzeichnete das Telefonbuch um die 160 000 Nummern. Der Durchbruch im Westen Deutschlands erfolgte gegen Ende der 1960er Jahre, als so gut wie jeder bundesdeutsche Haushalt ans Telefonnetz angeschlossen wurde. Dagegen blieb es in der ehemaligen DDR schwierig, an ein privates Telefon zu gelangen – 1989 kamen auf 100 Bürgerinnen und Bürger 11 Telefonanschlüsse.
All-in-one und all-inclusive
Was für ein Unterschied zwischen heute und der Zeit als in den Telefonzellen der Spruch »Fasse dich kurz« an die Rücksicht derjenigen, die telefonieren, auf diejenigen, die draußen warteten, appellierte. Mit dem Handy kann man zu jeder Tageszeit und an fast jedem erdenklichen Ort Gespräche führen. Man muss sich nicht verbinden lassen, keine passenden Münzen zum Einwurf bereit halten und ist nicht an ein Kabel mit eingeschränkter Reichweite gefesselt. Außerdem: Ein Handy kann mehr als ein Telefon. Im Gegensatz zum herkömmlichen Festnetz- und auch dem früher so exklusiven Autotelefon bieten die neuesten Mobiltelefone vielfache Möglichkeiten wie das Verfassen, Versenden und Empfangen von Textnachrichten, das Fotografieren und Filmen, Spiele spielen, Musik hören, im Internet surfen und sich Apps besorgen – all-in-one und all-inclusive, so man die entsprechende flatrate hat.
Die Option via Kurznachrichten zu kommunizieren wurde von den Handy-Herstellern zunächst völlig verkannt – niemand hatte damit gerechnet, dass das Simsen ein solcher Erfolg werden und eine neue Form der Kommunikation begründen würde. Besonders unter Jugendlichen hat sich mittlerweile eine Sprache in Kürzeln herausgebildet, ähnlich der beim Chatten in Internetforen verwendeten. Die Kids, aber zunehmend auch älteres Klientel, nutzen das Medium, um sich zu verabreden und sich unaufwendig zu verständigen.
Für viele Handynutzer ist aber nicht nur wichtig, dass das neue Multifunktionsgerät mehr kann als ein herkömmliches Telefon, sondern dass es auch mehr ist. Im Gegensatz zum Festnetztelefon, mit dem alle Mitglieder eines Haushalts telefonieren, ist das Mobiltelefon immer häufiger ein Gerät, das man sich mit niemandem teilen muss. Jeder und jede hat sein bzw. ihr eigenes, und um es sich ganz persönlich zu eigen zu machen, legen besonders Jugendliche großen Wert auf die Ausstattung und die individuelle Note ihres Handys.
Das fängt an mit der Wahl der Marke und des Modells, was natürlich auch von finanziellen Möglichkeiten und Erwägungen abhängt. Aber schon bei der Suche nach einem Klingelton spielt der Geldbeutel nur noch eine Neben-, und die Frage nach persönlichen Geschmacksvorlieben die Hauptrolle. Bevorzugen Sie das klassische Läuten, wie wir es aus analogen Zeiten kennen? Soll es poppiger sein? Oder ein Refrain aus einem »richtigen« Song? Und – das ist die nächste Stilfrage: Was ist auf Ihrem Display zu sehen? Eines der vorgegebenen Designs der Handyanbieter? Oder ein Lieblingsfoto? Oder ein Foto Ihrer Liebsten? Ebenso wie der Computerbildschirm erscheint das Handydisplay als ein idealer Ort, einem häufig benutzten Gerät seinen persönlichen Stempel aufzudrücken. Auf den richtigen Style kommt es dann schließlich noch bei der »Verpackung« an: Handysocke oder edles Etui? Handyanhänger oder besondere Handykappen? Auch hier gilt: Erlaubt ist, was gefällt. Zumindest was die persönlichen Geschmacksfragen in Sachen Handy-Design angeht.
Wir können ja noch telefonieren
Erlaubt ist mit dem Handy ansonsten bei Weitem nicht alles. Es gibt Orte und Situationen, in denen Telefonieren absolut nicht erwünscht ist: in Besprechungen, im Klassikkonzert, auch noch in vielen Krankenhäusern. Aber die Grenzen verschieben sich: Ist man vor zehn Jahre noch schief angeschaut worden, wenn man in der Straßenbahn telefonierte, ist es mittlerweile fast der Normalfall geworden mitzuhören (oder umgekehrt, zu wissen, dass man Mithörende um sich herum hat), wenn der Mitfahrer offensichtlich zu Hause anruft, um zu sagen, dass er in fünf Minuten zu Hause sein wird. Szenen, wie die, dass man sich am Bahnhof verabredet hat, der eine am einen Ende, die andere am anderen Ende des Gleises wartet und man sich per Handy über den jeweiligen Standort verständigt, obwohl man nur wenige Meter voneinander entfernt ist, haben mittlerweile viele Menschen erlebt. Handyverweigerern ist angesichts solch komödiantischer Slapsticks durchaus Recht zu geben, dass man sich doch »früher« – also ohne das Hin- und Her-Telefonieren – auch nicht verpasst habe.
Die ständige Verfügbarkeit aufgrund des Handys verändert die Art und Weise, wie wir uns verabreden, Ort und genaue Uhrzeit müssen nicht zwingend von vornherein feststehen, denn: »wir können ja noch telefonieren«… »Früher« musste man nicht ankündigen, wenn man sich fünf Minuten verspätete, und kam nicht unter Rechtfertigungsdruck, wenn man eine vom Anrufbeantworter abgehörte Nachricht nicht sofort beantwortete oder einfach für ein paar Stunden oder gar Tage nicht erreichbar war. Heute gibt es kaum noch eine Entschuldigung für Unerreichbarkeit: am ehesten kann man noch das Funkloch oder den leeren Akku vorschieben, aber diese Ausreden gelten nicht immer und bei jedem.
Das Handy schafft sowohl neue Zwänge als auch neue Freiheiten. Im Notfall können wir viel schneller Hilfe rufen als in früheren Zeiten, wir können uns von vielen Orten der Welt aus mitteilen und das mobile Telefonieren bringt wie das Internet Personen trotz aller Behauptungen, der westliche Mensch vereinsame, näher zusammen.
Das Handy macht vieles einfacher und sicherlich auch manches komplizierter. Und es ist in gewissem Sinne gleichzeitig ein Teil von und eine Reaktion auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen, die gemeinhin mit den Schlagworten Individualisierung, Mobilisierung und Flexibilisierung gefasst werden. Dabei ist das vielseitige mobile Gerät nicht weniger, aber auch nicht mehr als ein Instrument, unseren Alltag zu bewältigen und verschiedene Bedürfnisse zu befriedigen – zu kommunizieren, Musik zu hören oder zu spielen.
Günter Burkart: »Handymania. Wie das Mobiltelefon unser Leben verändert hat.« Frankfurt, New York 2007.
Kurt Stadelmann, Thomas Hengartner: »Ganz Ohr. Telefonische Kommunikation.« Schriftenreihe des Schweizerischen PTT-Museums Bern 1994. Bern 1994.
Schnittstelle: »Gedankentelefon« als Utopie
Von Karsten-Thilo Raab
Sich in die Welt der Computer hereinzudenken, fällt nicht allen leicht. Sind die meisten doch reine Nutzer. Obschon sie hier und da am Nutzen einer Technologie zweifeln, die sie mitunter fast zum Wahnsinn treibt. Allein 56 Minuten pro Tag müssen sich Berufstätige gemäß einer Studie aus Großbritannien über abgestürzte Computerprogramme, Drucker, die aus verschiedenen Gründen nicht das gewünscht Dokument in der gewünschten Qualität ausspucken, oder über langsam Internetverbindungen ärgern.
Gleichwohl bemüht sich der gemeine Computer mehr und mehr, dem Willen seines Besitzers zu gehorchen. Ein Beispiel sind die beliebten Spielkonsolen. Hier schwingt der Mensch einen imaginären Tennisschläger und schon steht er auf dem Bildschirm mitten in einem packenden Match. Doch die Wissenschaft will mehr, arbeitet fieberhaft an der Entwicklung einer prozessgesteuerten Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer. In den USA testen Forscher derzeit eine neue technische Errungenschaft, mit der sich Telefonnummern quasi durch die reine Kraft der Gedanken ins Handy eintippen lassen. Gedankenübertragung nennt man dies wohl.
Die Neuerung nutzt die aus der Neurologie für die Hirnstrommessung bekannte Elektroenzephalografie, kurz EEG. Dabei wird ein spezielles Stirnband angelegt, das die Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche misst. Mittels einer Bluetooth-Schnittstelle werden die Hirnsignale ans Handy gesendet. Eine eigens entwickelte Software sorgt dafür, dass die Signale in eine Telefonnummer gewandelt werden.
Damit steht das Telefonieren vor einer weiteren Revolution. Wahlscheibe, Tastatur und Touchscreens waren gestern. Gut, so ein Stirnband kleidet nicht jeden. Aber was noch viel schlimmer ist, das Vorhaben ist nicht nur aus optischen Gründen zum Scheitern verurteilt. Denn was nützt die beste Übertragungstechnik, wenn man sich noch nicht einmal die eigene Handynummer merken kann, geschweige denn die Telefonnummer anderer Leute?
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