Pralles Leben, braves Theater
»Street Scene«: Zum Spielzeitschluss holt die Semperoper Kurt Weill zurück nach Dresden
In Dresden gibt es auf gleich zwei Bühnen Hausfassaden zu sehen. Im Schauspielhaus sind sie der abstrakte Raum für die kongeniale Theaterfassung, die Wolfgang Engel aus Uwe Tellkamps Dresden-Roman »Der Turm« gemacht hat. Hier wird die Stadt imaginiert und die untergegangene DDR gleich noch mitgeliefert. In der Semperoper sieht das Fassadenbühnenbild zur Dresdner Erstaufführung von Kurt Weills amerikanischer Oper »Street Scene« auf den ersten Blick viel mehr nach Dresden aus. Schaut man auf das Stück, dann müsste es auch noch einen Wohnblock in New York imaginieren. Das tut es nicht. Dabei liefert diese »Straßenszene« doch jede Menge Vorlagen dafür, über Illustration und Behauptung hinaus zum Ort fürs pralle Menschleben in der Sommerhitze zu werden.
In der 1947 am Broadway uraufgeführten Oper, für die Langston Hughes aus dem gleichnamigen Stück von Elmar Rice das Libretto geschrieben, geht es um Problemfamilien. Hier um den Ehefrust, die Flucht der Frau ins Fremdgehen, um die latente Gewalttätigkeit ihres Mannes und dessen Hang zum Alkohol, um die Träume ihrer Tochter vom Weggehen. Da um einen alten Besserwisser, der es nur noch mit linken Parolen versucht und um seinen Sohn, der liest, was er in die Finger kriegt. Dann aber auch um den Eismann-Italiener der ersten Stunde und seine tratschende Frau. Eine alleinerziehende Mutter, die aus der Wohnung fliegt. Um bestandene Aufnahmeprüfungen und zankende Kinder. Um Missgunst und Hilfsbereitschaft. All diese Szenen sind um eine Lovestory zwischen den Jungen und das Eifersuchtsdrama der Alten gruppiert. All das ist auch heute erstaunlich gültig.
In Dresden werden diese Geschichten aus dem Leben hinter den Jalousien und draußen vor der Tür nacheinander an der Rampe serviert. Inklusive des vorhersehbaren Mordes an der untreuen Ehefrau und ihrem Liebhaber. Das Ende lässt danach freilich auf sich warten, weil dieses Ereignis erst noch ausführlich von der Presse und der gaffenden Nachbarschaft kommentiert wird. Erst dann beginnt mit wohnungssuchenden Pärchen alles von vorne. Volker Thiele hat seine acht in zwei Etagen über einen Eingangsbereich und zwei Reisebüros geschichteten Wohnwaben mit Jalousien versehen, auf denen die Fotos von renovierter, vermutlich Dresdener Edelplatte eine Milieustudie vorzugeben scheinen, die auf das Heute verweist. Doch die vom Schauspiel kommende Regisseurin Bettina Bruinier geht über eine allzu bieder präsentierte Nummernfolge nicht hinaus. Weil auch dem Gast am Pult der Sächsischen Staatskapelle, Jonathan Darlington, der rechte New Yorker Schmiss fehlt, zieht sich der Abend doch ziemlich in die Länge.
Dass man die mitunter hanebüchen reimende deutsche Textfassung von Stefan Troßbach verwendet, verbessert das Ganze nicht, sorgt eher für unfreiwillige Heiterkeit. In dem drei Dutzend Köpfe zählenden Ensemble haben vor allem Sabine Brohm als untreue Anne Maurrant, Markus Marquardt als ihr Mann Frank sowie Simeon Esper als Leseratte Sam und Carolina Ullrich als Rose die Chance, sich zu profilieren.
Verdienstvoll ist das ganze Unternehmen trotz aller Mängel, denn es passt zu der Ausstellung »Verstummte Stimmen«, mit der die Semperoper an die von den Nazis aus rassischen oder politischen Gründen ermordeten oder aus Deutschland vertriebenen Künstler erinnert.
Wer weiß, wie die Musikgeschichte ohne die ausführlich an Einzelschicksalen dokumentierte Kulturbarbarei der Nazis verlaufen wäre. Immerhin ist Kurt Weills erste Oper »Der Protagonist« 1926 unter Fritz Busch an der Semperoper uraufgeführt worden.
Nächste Vorstellungen: 24., 26., 28., 29. Juni
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.