»Vielleicht einige Tote«
Die engsten Vertrauten Pol Pots geben sich unschuldig: Es war nicht unsere Politik, die Menschen zu töten
»Vielleicht«, räumte Nuon Chea im Jahre 2001 gegenüber der »Far Eastern Economic Review« ein, »vielleicht wurden einige Leute getötet, aber sie starben höchstens an Erschöpfung und Krankheit. Es war nicht unsere Politik, die Menschen zu töten.«
»Einige Leute«, das waren nach neueren Forschungen zwischen 1,75 und 2,2 Millionen Menschen, die zwischen April 1975 und Januar 1979 ums Leben kamen. Die Ungenauigkeit resultiert aus dem Mangel an genauen Bevölkerungsdaten vor und nach der Schreckensherrschaft Pol Pots und der sogenannten »Roten Khmer«. Die letzte Volkszählung zuvor hatte 1962 stattgefunden, die nächste erst wieder 1998.
Zwischen 800 000 und 1,3 Millionen starben den Untersuchungen zufolge eines gewaltsamen Todes, wurden erschlagen oder erschossen. Die anderen fielen Hunger, Erschöpfung und Krankheit zum Opfer – laut Nuon Chea Folgen des Wirkens von Agenten der CIA, des KGB und Vietnams. Er selbst, behauptete seine Frau Ly Kim Seng gegenüber der »Phnom Penh Post«, habe »sein ganzes Leben dem Volke geopfert«.
Nuon Chea, der am 7. Juli sein 85. Lebensjahr vollendet, ist der höchstrangige der vier Angeklagten im »Fall 002«, der ab heute vor dem Kambodscha-Tribunal verhandelt wird. Auf der Tagesordnung stehen allerdings zunächst nur prozessuale Fragen, die Verhandlungen zur Sache beginnen frühestens im August.
Als »Bruder Nr. 2« war Nuon Chea die rechte Hand Pol Pots, des 1998 verstorbenen Regimechefs. Niemand zweifelt daran, dass er an allen wichtigen Beschlüssen der Führungsgremien im »Demokratischen Kampuchea« maßgeblich beteiligt war: über die gewaltsame Räumung der Städte im April 1975 und die Einrichtung von Zwangsarbeitslagern ebenso wie über die »Zerschlagung« – also Ermordung – tatsächlicher und vermeintlicher Feinde der Khmer-Nation. Kaing Guek Eav alias Duch, der Chef des Folter- und Vernichtungsgefängnisses S-21 (Tuol Sleng), hatte in seinem Prozess ausgesagt, er habe Nuon Chea ab August 1977 regelmäßig berichten müssen und von ihm Instruktionen über Verhöre und Exekutionen erhalten. »Onkel Nuon« dagegen will von der Existenz des Gefängnisses überhaupt erst nach 1979 erfahren haben!
Wie er leugnen auch die anderen drei Angeklagten jegliche Schuld. Khieu Samphan, demnächst 80 Jahre alt, war offizielles Staatsoberhaupt des Pol-Pot-Staates »Demokratisches Kampuchea« und nach 1979 der diplomatische Frontmann der Dschungelkämpfer, die Kambodscha – übrigens mit westlicher Unterstützung – weitere Jahre des Bürgerkriegs aufzwangen. Von S-21 will auch er nichts gewusst haben. Zwar musste er inzwischen anerkennen, dass es existierte und Teil des Regimes war, aber er selbst – sagt Khieu – habe nie Mordbefehle gegeben.
Ieng Thirith (79), die einzige Frau unter den Angeklagten, gehörte zwar nicht der höchsten Führungsebene an, doch war sie nicht nur verwandtschaftlich mit Pol Pot verbunden (ihre ältere Schwester Khieu Ponnary war dessen Ehefrau). Als »Sozialministerin« hat sie die Politik des Regimes stets unterstützt und in ihrem Bereich durchgesetzt. Was sie nicht hindert, alle Vorwürfe gegen sie als »Lügen und Diffamierungen« zu bezeichnen.
Ihr Mann Ieng Sary, mit bald 86 Jahren der älteste unter den Angeklagten, hat das Gericht schon vor Prozessbeginn mit Verschonungsanträgen überhäuft. Der einstige »Bruder Nr. 3«, Vizepremier und Außenminister des Regimes, war 1979 von einem Revolutionären Volkstribunal in Phnom Penh ebenso wie Pol Pot in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Als er 1996 als erster aus der Führungsriege der Polpotisten desertierte und damit den Kollaps der Dschungeltruppe auslöste, wurde ihm das »königliche Pardon« des damaligen Monarchen Norodom Sihanouk zuteil. Jetzt beruft sich Ieng Sary auf den juristischen Grundsatz, dass niemand zweimal wegen desselben Vergehens bestraft werden darf. Während die Anklage unter anderem dagegen hält, das Tribunal 1979 habe als »Schauprozess« juristischen Maßstäben nicht entsprochen, widerspricht Iengs Verteidigung: Es habe in der damaligen Volksrepublik Kampuchea eine zwar mit Mängeln behaftete, aber funktionierende Justiz gegeben. Wohlgemerkt: Es geht um jene Volksrepublik, die Ieng Sary und Co. seinerzeit um den Preis Tausender weiterer Opfer bekämpften.
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