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Tragödie, Satire, Parodie

Michel Houellebecq: »Karte und Gebiet« ist sein bisher bester Roman

  • Lilian-Astrid Geese
  • Lesedauer: 3 Min.
So könnte man sich Jed Martins Kunst vorstellen, Michel Houellebecqs Roman muss man lesen ... ND-
So könnte man sich Jed Martins Kunst vorstellen, Michel Houellebecqs Roman muss man lesen ... ND-

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Jed Martin bei seiner Arbeit … auf Texte fixiert ist, die von jedem realen Bezug befreit sind.« Sätze wie diese, Vielschichtigkeit – Doppelbödigkeit – par excellence, machen den Reiz des besten Romans aus, den Michel Houellebecq bisher geschrieben hat, und für den er im vergangenen Herbst den renommiertesten französischen Literaturpreis »Prix Goncourt« erhielt. Verdient, denn es gibt kaum einen französischeren Roman als dieses Meisterwerk.

Houellebecq macht noch aus dem banalsten Detail einen eigenen Plot, eine Geschichte in der Geschichte. Das Vergnügen am Erzählen ist ihm, dem als eher verbitterter Zyniker denn als genussvoller Fabulierer geltenden Autor, ebenso wichtig, wie das Erzählte selbst. Und so scheitert die Besprechung von »Karte und Gebiet« an der Inhaltsangabe und versucht sich an Impressionen und einer passionierten Einladung, das Buch selbst zu lesen. Es ist ein Genuss, im Original wie auch in der hervorragenden deutschen Übersetzung von Uli Wittmann.

Denn im Grunde ist Houellebecqs jüngstes Oeuvre weit mehr als ein Roman. Formal erinnert er an eine klassische Tragödie in drei Akten, die als Künstlerbiografie beginnt und als Krimi endet. Tod und Sterben, Mord und Selbstmord sind tragende Motive der novelesk verarbeiteten Vita des fiktiven Fotografen und Malers Jed Martin, dessen Lebensweg sich mit dem Schriftsteller Michel Houellebecq kreuzt und verquickt. Die Tragödie mit autobiografischem Touch ist jedoch nicht nur Tragödie: Immer wieder wird sie zur Komödie – wenn Martin ausgerechnet über Houellebecqs Erzkonkurrenten Beigbeder den Kontakt zu Houellebecq sucht: »Der Autor saß vor seinem Pastis mit Mandelsirup und betrachtete melancholisch eine fast leere Pillendose aus Metall, in der sich nur noch ein kleiner Rest Kokain befand.« Oder zur Satire – wenn halb Frankreich nach dem langen Wochenende auf der Autobahn im Stau steht und sich wie einst in Julio Cortázars Kurzgeschichte »Autoroute du Soleil« ein eigenes Leben in der Blechlawine entwickelt. Sie wird auch zur Farce, mit spitzen Seitenhieben auf die neu entdeckte Liebe Frankreichs zur Provinz. Oder zur Kritik am volatilen Kunstmarkt, wenn die Preise für Martins Bilder täglich nach oben schnellen, obwohl sich die Kritiker nicht einmal einig sind, ob er nun gegenständlich malt oder vielleicht doch nicht.

»Karte und Gebiet« lässt sich aber auch als Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Vater und Sohn (Martin) lesen. Als Liebesgeschichte – zwischen Jed und der schönen Russin Olga – ohne happy end. Als sympathische Parodie auf den Sonntagskrimi, mit einem etwas orientierungslos dem Ende seiner Karriere entgegen lebenden Kommissar und mehr oder weniger tumben Polizeibeamten. Oder als existenzialistischer Diskurs zum Sinn des Lebens, das doch keinen Sinn hat: In den letzten dreißig Jahren seines Lebens widmet sich Jed Martin Videogrammen, »innerhalb der westlichen Kunst ohne Zweifel der gelungenste Versuch, die pflanzliche Sichtweise der Welt wiederzugeben.« Er arbeitet mit ausrangierten Motherboards, die »an seltsame, futuristische Zitadellen denken lassen«. Und ganz am Ende »wird alles ruhig, und zurück bleiben nur sich im Wind wiegende Gräser«.

In den Momenten größter Euphorie wird das Leben der Menschen zum Drama. Hoffnungslosigkeit? Zuletzt dann doch Zynismus? Eigentlich nicht. Schließlich erinnert der Autor an die hier eingangs zitierte »gewisse Ironie«, die dem Leser mehr als eine Interpretationsoption bietet. Jed gewinnt Ruhm und Geld. Doch er verliert die Mutter, den Vater, die Liebe, den Freund, und ihm bleibt ein maroder Heizkessel, »im Grunde Jeds ältester Weggefährte«.

Houellebecq wäre nicht Houellebecq, wenn er dem Leser eine moralische Botschaft mitgeben wollte. Und er wäre nicht Houellebecq, wenn er darauf verzichtete. Nachdrücklicher könnte die Aufforderung »Lesen Sie selbst!« nicht lauten. Denn »die Karte ist interessanter als das Gebiet«, und der Kontext manchmal interessanter, als die Fakten.

Michel Houellebecq: Karte und Gebiet. Aus dem Französischen: v. Uli Wittmann. DuMont Verlag. 416 S., geb., 22,99 €.

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