»Mavi Marmara« – Aufklärung und Polemik

Die umstrittenen Geschehnisse rund um die Gaza-Flotte 2010 begleiten auch den diesjährigen Schiffskonvoi

  • Roland Etzel
  • Lesedauer: 5 Min.
Unsichtbarer Passagier an Bord der Gaza-Flotte dürfte in diesen Tagen der Gedanke an eine erneute Kommandoaktion des israelischen Militärs sein. So wie die zum Teil massiven Vorwürfe gegen die Organisato- ren und Unterstützer der »Mavi Marmara« – jenes türkischen Schiffes, das im Vorjahr in internationalen Gewässern bei Nacht und Nebel geentert wurde.

Neun türkische Passagiere wurden damals bei den Auseinandersetzungen mit israelischen Elitesoldaten getötet. Dennoch sehen sich nicht nur die Militärs, sondern auch die Flotten-Teilnehmer dem Vorwurf ausgesetzt, sie seien bewaffnet gewesen. Dies widerspreche der vorgeblich rein friedlichen Mission der Hilfsflottille. Unbestreitbar ist, dass es handfeste Auseinandersetzungen gab, wie auf Videos und auf Fotos in der türkischen Zeitung »Hürriyet« zu erkennen ist, die beim Sturm des Schiffes entstanden. Es sollen Handfeuerwaffen gefunden worden sein, die türkischen Männern an Bord gehört hätten. Ihre Existenz wurde von der Untersuchungskommission in Ankara zumindest nicht dementiert. Andererseits konnten die israelischen Behörden die präsentierten Waffen keiner Person zuordnen. Schussverletzungen, die aus diesen Waffen rührten, vermeldeten sie nicht.

Die Kommissionen Israels und der Türkei konnten sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen und untersuchten den Vorfall getrennt. Die israelische Seite verweigerte den von der UNO angebotenen neutralen Experten, Soldaten zu befragen. Da das israelische Militär alle Kameras und Mobiltelefone der Passagiere konfiszierte, gibt es mit Ausnahme jener wenigen Videopassagen, die noch heute auf der Internet-Plattform Youtube zu sehen sind, keine weiteren Bilddokumente als Beweismittel.

Als Waffen eingeordnet wurden von Israel auch Eisenstangen, Holzknüppel und Messer, mit denen sich Passagiere verteidigten – oder stürmende Soldaten angriffen, wie das israelische Verteidigungsministerium erklärte. Auch das ist auf Videos erkennbar, allerdings ebenso, dass der Widerstand nach etwas über einer Minute gebrochen war. Der Völkerrechtler Norman Paech, der auf einem Begleitschiff mittelbarer Zeuge der Aktion war, berichtete von »zweieinhalb Holzlatten«, die er gesehen habe.

Wie der Schirmherr der diesjährigen Deutschen Initiative zum Bruch der Gaza-Blockade (DIGB), der Orientwissenschaftler Prof. Udo Steinbach, erklärte, werde es auf dem deutschen Schiff keinerlei Kriegswaffen geben. So wie er sich gegen vordergründige antiisraelische Metaphorik im Begleittext der Flottille wandte. Beispielsweise zeigt ein Video, wie im Vorjahr in Istanbul vor der Abfahrt der »Mavi Marmara« ein Teilnehmer die Menge an die Vertreibung von Juden in Chaibar durch die Armee des Propheten Mohammed erinnerte. Der Ruf »Chaibar, Chaibar« soll eine Schlacht assoziieren »gegen die Feinde, bis diese sich dem Islam unterwerfen«. Darüber hinaus können Rufe »Tötet die Juden«, die es vom Kai gegeben haben soll, nicht verifiziert werden.

Als Hintergrund dafür gilt, dass im Vorjahr die türkische Stiftung für Humanitäre Hilfe und Menschenrechte (IHH) die Fäden in der Hand hatte. Sie wird als fundamentalislamisch eingestuft. Eine polemische Diskussion entspann sich so auch um die Aussage der LINKE-Bundestagsabgeordneten Inge Höger und Annette Groth, sie seien auf dem Frauendeck der »Mavi Marmara« nachts eingeschlossen worden. Dies sei, wie in einem Blog im Internet zu lesen, ein »Schlag ins Gesicht der Frauenbewegung«. Wie Annette Groth gegenüber ND sagte, habe sie ihre Unterbringung allerdings als Schutz empfunden und verstehe den Vorwurf nicht, dass sie antifeministisch sei.

Nach dem ominösen 31. Mai 2010 werden der IHH bzw. einzelnen ihrer Vertreter in israelischen und vielen westlichen Medien Verbindungen zu Terrororganisationen bis hin zu den faschistischen Grauen Wölfen nachgesagt. Die aus zentraleuropäischer Sicht in der Tat zwielichtige IHH indoktriniere rassistisch und rufe nicht nur zum Heiligen Islamischen Krieg auf, sondern organisiere auch das Training für ihn. Allerdings beziehen sich die konkreten Vorwürfe fast alle auf die 1990er Jahre. Seltener wird darüber berichtet, dass es bei der aktiven Unterstützung des Dschihad vor allem aus saudi-arabischen, türkischen, aber nicht zuletzt auch aus westlichen Quellen gar nicht um Israel oder Palästina, sondern um die Kriegsteilnahme in Afghanistan, Bosnien oder in Tschetschenien ging und geht.

Bei aller Anti-IHH-Polemik wird in der Regel kaum erwähnt, dass die Organisation auch auf das Gemeinwohl orientierte Ziele verfolgt. Sie ist in dieser Eigenschaft bei der UNO-Unterorganisation Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) registriert und anerkannt und erhält auf Antrag entsprechende Unterstützung. Dafür muss sie eine entsprechende Satzung vorweisen und unterliegt Kontrollen. Bisher fand der ECOSOC offenbar nichts zu beanstanden. Auch ist nicht bekannt geworden, dass Staaten wie Israel oder Deutschland, die die IHH heftig kritisieren, bei ECOSOC beantragt hätten, den Status der Stiftung zu überprüfen.

Ausgerechnet die nichttürkischen Teilnehmer der Gaza-Flottille 2010 für jede einzelne Parole oder gar Handlung der IHH oder eines ihrer Mitglieder in Haftung nehmen zu wollen, zeugt auch von einem gewissen Pharisäertum. Man kann europäische Gaza-Aktivisten wegen ihres Umgangs mit der IHH schwerlich als israelfeindlich tadeln, weil diese Organisation sich nicht von offen oder verdeckt agierenden kriminellen türkischen Bünden distanziere. Letztlich haben auch alle derzeit führenden israelischen Politiker, allen voran Staatspräsident Shimon Peres und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, mit türkischen Politikern am Tisch gesessen, die sich nicht nur nicht von der IHH distanzieren, sondern sogar auf deren Kundgebungen sprechen, beispielsweise Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nach dem Sturm auf die »Mavi Marmara«.

Dieses Mal ist die IHH gar nicht mit im Boot und vermutlich auch keine andere türkische Organisation, die in der Vergangenheit von Kritikern der Gaza-Flottille angeklagt wurde. Schirmherr Udo Steinbach hat deutlich erklärt, dass sich die DIGB nicht für eine platte Anti-Israel-Polemik instrumentalisieren lassen will – von wem auch immer.

Die »Mavi Marmara« und andere Schiffe hatten im Vorjahr rund 10 000 Tonnen Hilfsgüter geladen, vor allem Baumaterial, Lebensmittel, Schulbedarf. Bei den diesjährigen Hilfsgütern handelt es sich – neben den bereits genannten – vor allem um dringend benötigte medizinische Güter: Medikamente, Krankenhausausstattung, Sanitärbedarf. Das Schiff »Audacity of Hope « wird auch Briefe, die Solidarität und Liebe für die Menschen in Gaza ausdrücken, transportieren.

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