Bei uns ist Streit zweitrangig
Ernesto Kroch über den Sozialismus im 21. Jahrhundert und die Casa Bertolt Brecht
ND: In der deutschen Linken wird gern über den Sozialismus des 21. Jahrhunderts geredet und dabei immer nach Lateinamerika geguckt. Bestehen diese Hoffnungen zu Recht, oder ist das Träumerei?
Kroch: Ich glaube, das ist das Ziel vieler Millionen. Es hat bisher aber nicht zu einer Revolution geführt, der Prozess geht sehr langsam und mit vielen Widersprüchen vor sich. Bislang ist ja überhaupt strittig, was Sozialismus ist. Schließlich ist durch das Scheitern des Staatssozialismus klar geworden, dass es so nicht geht. Jetzt versucht man, neue Wege zu gehen, die sind auch nicht leicht gangbar und oft widersprüchlich. Aber ohne Zweifel ist ein Prozess im Gang, bei dem viele Menschen nach einem System suchen, das alternativ zum Kapitalismus ist und in dem mehr soziale Gerechtigkeit, weniger Ungleichheit, mehr Menschenrechte herrschen. Im 21. Jahrhundert haben wir ja noch 89 Jahre vor uns – bis dahin kann es gelingen.
Speist sich Ihr so gewaltiger Optimismus aus der Betrachtung der Linken in Lateinamerika?
In den wenigen Jahren, in denen fortschrittliche Regierungen in den lateinamerikanischen Ländern bestehen – und zwar in ganz unterschiedlicher Weise –, geschehen ganz ohne Zweifel Fortschritte. Mit einer gemeinsamen Richtung: weg vom neoliberalen Modell. Diese neuen Regierungen haben nicht das kapitalistische Gefüge gesprengt, aber sie haben neue Sphären, neue Bereiche im Kulturellen und Sozialen erreicht, die vorher ausschließlich vom Kapital besetzt waren. Und darin sehe ich zumindest erste Schritte. Die sind freilich vom Ziel, das wir uns vorgenommen haben, noch sehr weit entfernt, aber sie zeigen immerhin eine Richtung an. Das berechtigt zu einem gewissen Optimismus.
Sie sind Wanderer zwischen den Welten, haben schon viele Höhen und Tiefen der Linken erlebt. Macht Sie das gegenüber vielerlei Gezänk gelassener – oder nervt Sie das eher mit den Jahrzehnten?
Ja, es nervt. Oft wird das Gezänk als eine Sache des allzu Menschlichen abgetan. Aber das ist natürlich eines der größten Hindernisse für die politische Arbeit. Es gibt einen Satz von unserem jetzigen Präsidenten, der in der Guerilla gewesen ist und 13 Jahre in Militärgefängnissen gesessen hat: »Wenn du dich nicht änderst, ändert sich überhaupt nichts.« José Mujica hat vollkommen Recht. Der gesellschaftliche Transformationsprozess gelingt nicht nur durch Maßnahmen einer Regierung, nicht nur durch politische Entscheidungen. Er muss gleichzeitig begleitet werden von einer Kulturrevolution, von einer Änderung des Bewusstseins der Menschen. Sonst verlaufen alle angedachten Veränderungen im Sande.
Haben Linke – zumindest kann man das bei der Linkspartei in Deutschland oft beobachten – eine besondere Affinität zum Streit?
Die Gründe, die bei der deutschen LINKEN zu vielen Streitereien führen, scheinen uns – vielleicht, weil wir das aus der Entfernung sehen – ein wenig minimal. Uns scheint auch, es fehlt eine gewisse Streitkultur und Toleranz anderer Meinungen. In dieser Beziehung sind wir ein wenig weiter. Bei uns gibt es auch Polemik, die ist auch notwendig, wenn in einer Einheitspartei, wie es die Frente Amplio ist, so verschiedene Strömungen vereint sind. Aber diese Auseinandersetzungen haben oft zu Kompromissen geführt, bei denen alle Konzessionen machen mussten. Bei uns ist der Streit zweitrangig. Das Hauptaugenmerk liegt auf sachlichen Problemen, das ist wichtig für das Fortbestehen der Frente Amplio. Nur so haben wir verhindert, dass Erdölraffinerien, Elektrizitätswerke und Telekommunikation privatisiert werden und erreicht, dass 2004 das Wasser zum unveräußerlichen nationalen Gut erklärt wurde.
Das sind Erfolge, von denen die Linkspartei noch weit entfernt ist.
Bei uns gibt es auch Rückschläge. Im Moment befinden wir uns in der Frente Amplio in Uruguay in einer gewissen Krise. Sie wurde dadurch hervorgerufen, dass das Straffreiheitsgesetz, das als Erbe der Diktatur die ganze Nachdiktaturzeit vergiftet hat, weiter besteht. Wenn wir sagen, dass für uns die Menschenrechte einen hohen Stellenwert haben, heißt das, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind. Da kann es nicht sein, dass Menschen, die gemordet, gefoltert, Kinder entführt haben, straflos bleiben. Aber wir haben es nicht gemeistert – wir erreichten bei der Volksabstimmung nur 47 Prozent und haben auch im Parlament versagt. Wir haben 50 Parlamentssitze unter 99 und einer ist ausgeschert – das Ergebnis 49:49 ließ alles beim Alten.
Wie bewerten Sie als deutscher Jude und Kommunist die Antisemitismus-Diskussion in der deutschen Linkspartei?
Wir beobachten sie ja nur durch das Fernrohr. Möglicherweise gibt es Leute, die die Kritik an der israelischen Politik nur als Vorwand gebrauchen für ihren Antisemitismus. Das alles mag es geben. Innerhalb der Linken ist das unserer Erfahrung nach allerdings eine Minderheit, die man ignorieren oder gegen die man sich öffentlich aussprechen kann. Wobei ich der festen Überzeugung bin, dass Kritik an jeder Unterdrückungspolitik erlaubt sein muss, von welchem Land sie auch immer kommt.
Sie haben in Ihrer Autobiografie bekannt, nicht daran zu glauben, dass ein denkender Mensch immer und überall mit seiner Partei übereinstimmen kann – sie aber trotzdem braucht. Sind vielleicht die parteiübergreifenden Netzwerke eine Lösung für die Zukunft?
Außerparlamentarische Organisationen haben einen Vorteil gegenüber den Parteien, weil bei Parteien alle Sachfragen irgendwie mit besoldeten Posten gebündelt sind. Das ist nicht der Fall in den sozialen oder anderen linken kritischen Bewegungen. Dennoch stehe ich nicht auf dem Standpunkt, den bei Attac viele Leute vertreten, dass man ohne Parlamentarismus und Parteien die Gesellschaft ändern kann. Denn sowohl die einen wie auch die anderen sind notwendig für eine gesellschaftliche Transformation. Man kann das in Uruguay sehen: Unsere Regierung steht natürlich unter dem Druck der großen Kapitale – wie jede Regierung, ob sie nun links oder rechts ist, ohne Kapital funktioniert der Kapitalismus nicht. Deshalb ist der Gegendruck der sozialen Bewegungen von riesiger Bedeutung. Bei uns besorgen den vor allem die Gewerkschaften. Da gibt es auch radikalere Kräfte, aber die Mehrheit von ihnen steht auf dem Standpunkt, man müsse einen Unterschied zwischen linken und rechten Regierungen machen. Gewerkschaften und Frente Amplio haben gemeinsame gesellschaftliche Ziele, deshalb arbeiten sie zusammen. Dennoch behalten die Gewerkschaften ihre Unabhängigkeit und kritisieren die Regierung, um ihren Einfluss zu wahren.
An der gesellschaftlichen Veränderung in Uruguay hat die Casa Brecht in Montevideo – ein Ziehkind auch von Ihnen – einen nicht unwichtigen Anteil. Als Kulturinstitut DDR-Uruguay 1964 gegründet, konnte sie über gute und schlechte Zeiten gerettet werden und hat sogar die deutsche Vereinigung überlebt. Warum war diese Einrichtung so wichtig?
Besonders wichtig war sie vor der Militärdiktatur. In jenen Zeiten vor 1970 war bei uns Deutschland nur Westdeutschland, die DDR existierte nicht. Wir haben mit der von der DDR unterstützten Casa Brecht zum ersten Mal in Uruguay die verdeckte Seite des Mondes erhellt. Und das nicht nur in linken, sondern auch in Regierungskreisen. Es war ja auch ein Unterschied, ob man aus der Bundesrepublik in der DDR nur die zerbröckelten Fassaden registrierte oder in Uruguay die Augen aufriss, wenn man vom Gesundheits- und Bildungssystem der DDR erfahren hat. Ich bin sicher, wir haben einen reellen Beitrag dazu geliefert, dass 1972 die Hallstein-Doktrin auch in Uruguay durchlöchert und die diplomatischen Beziehungen zur DDR aufgenommen wurden.
Was hat ausgerechnet Sie geritten, die Mondrückseite zu erhellen, auf der Sie, ein Widerstandskämpfer, den die Nazis ins KZ gebracht hatten, nach 1945 nicht willkommen waren?
Wir sahen in der DDR den antifaschistischen deutschen Staat und den Versuch, eine zum Kapitalismus alternative Gesellschaft aufzubauen. Ich persönlich hatte sehr viele Zweifel. Das liegt an meiner Herkunft. Ich war in der KPO und bin in der Weimarer Republik, als die KPD die Sozialdemokratie als Sozialchauvinisten und Sozialimperialisten bezeichnete, für die Einheit mit der SPD gegen Krieg und Faschismus eingetreten und hatte kein Verständnis für die stalinistische Politik. Andere Compañeros hatten weniger Zweifel. Auch wenn für mich Stalin nie ein großer Mann war – die Sowjetunion war für mich immer ein Versuch, aus der kapitalistischen Klemme herauszukommen.
Immer?
Ich dachte noch bis zum Herbst 1989, dass mit demokratischen Reformen ein sozialistisches Modell zu retten wäre. Ich habe mich geirrt. Das war meine dritte Niederlage. Die erste war der Faschismus in Deutschland, dafür musste ich im KZ büßen. Die zweite war die Militärdiktatur in Uruguay, mein Sohn wurde sechs Jahre vom Militär gefangen gehalten, ich musste das Land verlassen. Die dritte Niederlage war gewissermaßen eine ideologische: Der Zusammenbruch eines Landes, das – wenn es auch nicht das volle Ideal war – immer eine Perspektive für mich gewesen ist. Erst der Sieg der Frente Amplio ist mein erster persönlich empfundener Sieg gewesen.
Die Casa Brecht existiert noch immer. Glauben Sie, dass diese politische und kulturelle Bildungseinrichtung heute nicht nur für Uruguay, sondern für ganz Lateinamerika Bedeutung hat?
Ein klares Ja. Die politische Dimension von Uruguay und damit auch der Casa Brecht ist wesentlich größer als ihre geografische Dimension. Uruguay gibt ein Beispiel in Fragen der Einheit der Gewerkschaften, der Einheit aller linken Parteien, der Bürgerpartizipation, der sozialen Transformation der Gesellschaft, der Wahrung nationaler Güter. Bei all diesen Sachen ist die Casa Brecht aktiv dabei. Im Jahr 2000 sind fünf Kommunalpolitiker aus Berlin, darunter der Lichtenberger Bürgermeister, zu uns zu einem Austausch über Dezentralisation kommunaler Verwaltung und Bürgerpartizipation gekommen. Ist es ein Zufall, dass heute in Lichtenberg der partizipative Haushalt dem Modell in Montevideo sehr ähnlich ist? Wir haben 2005 zusammen mit Brasilianern, Venezolanern, Argentiniern, Chilenen ein Symposium über soziale Transformation veranstaltet. Wir haben über »die offenen Wasserhähne Lateinamerikas« interregional diskutiert und 2007 unter dem Titel »Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts – wohin geht es?« ein mehrtägiges Seminar mit Delegationen aus allen links oder fortschrittlich regierten Ländern Lateinamerikas durchgeführt. All das konnte man nur in Montevideo machen, weil die Casa Bertolt Brecht das organisieren kann.
Das alles steht auch in einem Offenen Brief, den Sie – inzwischen mit mehr als 200 Unterschriften versehen – kürzlich an die Rosa-Luxemburg-Stiftung gerichtet haben. Warum war der nötig?
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die uns seit dem Jahr 2000 in großen ganzjährigen Projekten finanziell unterstützt, will die Zusammenarbeit mit uns Ende 2011 beenden. Darüber waren wir natürlich bestürzt und haben deshalb diesen Brief geschrieben. Vielleicht hat man mehr erwartet von den Linksregierungen in Lateinamerika, als bisher zustande gekommen ist. Aber trotz oder wegen dieser schrittweisen Entwicklung mit all ihren Widersprüchen betrachte ich auch heute noch Uruguay, Lateinamerika, die Casa Brecht als eine Referenz auch für die LINKE und die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Wird die Casa Brecht einen Teil ihres Engagements einstellen müssen, wenn Ihr Offener Brief nicht auf offene Ohren stößt?
Ohne Zweifel wäre das die Folge. Wir haben zwar auch von anderen Unterstützung, beispielsweise von der Böll-Stiftung, – aber das ist alles nur punktuell. Weil uns die deutsche LINKE politisch am nächsten steht, hat uns der beabsichtigte Bruch schwer getroffen. Bei einem Gespräch in Berlin haben die Genossen uns inzwischen zugesichert, nach einer Lösung zu suchen. Vielleicht wird die Zauberformel ja noch gefunden.
Spenden unter der Konto-Nr.: 443 499 102 und Bankleitzahl: 100 100 10 bei der Postbank Berlin – Alexander von Humboldt Gesellschaft e.V.
Für Casa Bertolt Brecht, Montevideo
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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