Rätselhaftes Zelluloid

Experimentalfilme bieten im Haus der Kulturen die Rencontres Internationales

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Schon die Eröffnungsveranstaltung des Festivals Rencontres Internationales im Haus der Kulturen der Welt bot ein Defilee der Rätsel. Der Engländer Imogen Stidworthy lässt acht Minuten lang im Theater Farbige in einem Fantasie-Englisch parlieren, das ihn vor dem Zugriff des Gesetzes schützen soll. Der Niederländer Erwin Olaf zeigt in »Dusk and Dawn« auf zweigeteilter Leinwand ähnliche Situationen: Eine weiße, eine schwarze Mutter wiegen ihr Baby und betrauern einen Toten, mit überraschendem Schluss. Die Pink Twins aus Finnland lösen Festsäle und Theater in bizarre Farbraster auf. Bei dem Franzosen Neil Beloufa wird eine ehemalige Luxusvilla mit großen Fenstern, über deren Nutzen sich Anwohner nur wundern können, zum Terroristentreff. Landsmann Clément Cogitore setzt 2008 versteigerte Aussichtstürme der österreichischen Armee zur slowakischen Grenze in »Scènes de Chasse«, aufgenommen mit verwackelter und gefilterter Kamera, als Hochstand für eine Jagd ein. Der Belgier Hans op de Beeck schließlich nimmt in seinem Halbstünder »Sea of Tranquillity« einen fiktionalen Luxusliner trotz aller Versprechen auf ein singuläres Erlebnis zum Gleichnis öder Langeweile in einer angstvoll leeren Architektur und mit einer vornehm erstarrten Gesellschaft.

So lösten schon zu Anfang die Rencontres Internationales Paris/Berlin/Madrid ihre Vorgabe ein, neuen Film und zeitgenössische Kunst ungewohnt zusammenzubringen. An sechs Festivaltagen gehen 150 Werke aus Deutschland, Frankreich, Spanien und weiteren 50 Ländern über die Leinwand, bieten vielen der Regisseure Gelegenheit, sich persönlich vorzustellen. Neben namhaften erhalten dabei auch junge Künstler ihre Chance.

Zu den Renommierten gehört der Dokumentarfilmer Thomas Heise, der mit »Sonnensystem« (2011) in 100 Minuten von einer Begegnung erzählt. Begegnet sind er und sein Team der indigenen Gemeinschaft der Kollas von Tinkunaku, die in einer grandiosen Berglandschaft irgendwo im Norden Argentiniens lebt. Ohne jeden Kommentar, nur mit den Geräuschen der Natur, dokumentiert Heise den Alltag von Winter zu Sommer. Was die Kamera in kahlem Tal einfängt – Felder, Kirche, Häuser –, schaut in warmer Jahreszeit wunderbar begrünt und blühend aus. Dort vollzieht sich Leben im ewig gleichen Alltag, zwischen Feldbearbeitung, Ziegelbrennen, Tierschlachten. Hart für unsere Augen sind diese Bilder, künden indes von einer Normalität, die wir in unserem Supermarktdasein verdrängt haben. Ein umgestürzter Traktor wird mit vereinter Kraft aufgerichtet, Pferde transportieren auf steinigem Pass Lasten, in der Kirche betet man mit den christlichen Heiligen wohl auch die der eigenen Religion an, ein Knabe ritzt in Lehm Menschen. In Echtzeit läuft vieles, lange Einstellungen wirken so jedem Action-Effekt entgegen. Am Ende steht, zu Lacrymosa-Gesang, die Busfahrt Übermüdeter in die große Stadt, mit Blick auf Hochhäuser, die hinter dem Wellblechdorado der Armen wie eine Verheißung auftauchen. Marktbesuch oder Abwanderung? Heise lässt das offen.

Auch der Finalbeitrag zehrt von großer Landschaft, macht sie jedoch zur Kulisse einer fiktiven Erzählung. In »Finisterrae« schickt der Spanier Sergio Caballero zwei weiß verhüllte Geister auf Pilgerfahrt über Santiago de Compostela an jenes Ende der Welt. Dort erhoffen sie sich, ihrer Existenz müde, Verwandlung in ein besseres Dasein. Die wenigen Dialoge laufen in Russisch und sind oft so simpel, wie die Erlebnisse geheimnisvoll und surreal anmuten. Welcher Lohn auf die Geister für die Strapazen nach 80 Minuten wartet, sieht man besser selbst.

Bis dahin gibt es noch mehrere Programme mit Kurzbeiträgen zu besichtigen. Über ein Dorf, dessen Bewohner vom Staat in Neubausiedlungen umgesetzt wurden, sowie Eltern, die in der Kulturrevolution ihre Kinder verloren haben, berichten Streifen aus China. Die Erziehung von Soldatinnen in Moskau verhandelt ein Dokfilm aus den Niederlanden. Die Besetzung von Alcatraz durch Indianer, französische Kolonialgeschichte, wie zwei Dörfer ins Getriebe der Politik kamen, der Moment zwischen Bewusstsein und Traum Liebender: all dies sind weitere Themen kurzer Beiträge. Debatten geben Chance, sich über das Gesehene auszutauschen. Der Eintritt für alle Veranstaltungen ist frei.

Bis 3.7., Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Tiergarten, www.art-action.org

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