Sächsisch stirbt aus
Schweizer Experte forscht an der Uni Leipzig
ND: Herr Professor Siebenhaar, Sie stellen eine gewagte These auf: Der sächsische Dialekt als solcher existiert nicht mehr. Worauf fußt diese These?
Siebenhaar: Ein Dialekt folgt einem geschlossenen Sprachsystem, hat klare Regeln in der Aussprache, in der Bildung der Wörter und in der Syntax. Die Leute, die ihn sprechen, können genau benennen, was zum Dialekt gehört und was nicht. In diesem Sinne gibt es den sächsischen Dialekt nicht mehr. Dialekte stehen für Vielfalt und zeigen, woher Menschen kommen, schaffen Identität und sagen viel über Heimat. Da, wo die Dialekte verschwunden sind, übernehmen das regionale Umgangssprachen.
Was aber wird in Sachsen gesprochen – wenn nicht Sächsisch?
Aus sprachwissenschaftlicher Sicht eine Abweichung der Standardsprache, dem heute gebräuchlichen Ausdruck für Hochsprache. Es ist gewissermaßen eine sächsische Art Deutsch zu sprechen, wobei die Grenzen fließend sind. Bekanntlich verändert sich Sprache permanent.
Was ist Standard? Das was in der Tagesschau gesprochen wird?
Unter anderem, wobei es selbst dort Abweichungen gibt, indem die Sprecher ›nich‹ statt ›nicht‹ sagen – zum Beispiel.
Hat Lene Voigt, die Leipziger Mundartdichterin, noch Sächsisch gesprochen?
Was sie gesprochen hat, wissen wir ja nicht. Geschrieben hat sie aber Sächsisch, jedenfalls in bedeutend größerem Maße als es heute üblich ist. Das Zurückgehen des Dialektes ist übrigens kein typisch sächsisches Phänomen, das stellen wir überall in Deutschland fest, vor allem in den Städten. Und im sogenannten Bildungsbürgertum wurde schon immer Wert gelegt auf die Standardsprache. Ich persönlich finde gut, wenn die Leute zu ihrer Art zu sprechen stehen, auch die Sachsen.
Verstehen Sie als Schweizer in Leipzig, wenn sich Einheimische untereinander unterhalten?
Ja, wobei es auf das Sprachtempo ankommt. Schwieriger wird es für mich im ländlichen Raum, und wenn es ins Erzgebirgische reingeht. Das liegt oft auch an der Sprachmelodie.
Dafür bekommen die Sachsen deutschlandweit viel Schelte. Man macht sich lustig, der Dialekt hat ein schlechtes Image. Woran liegt das?
Das hat politische Gründe, die Jahrhunderte zurückreichen. Früher befand sich mit August dem Starken in Sachsen ein starkes Machtzentrum. Sächsisch war Prestigesprache. Als die politische und kulturelle Macht nach dem Siebenjährigen Krieg an Preußen ging, setzte sich deutschlandweit allerdings nicht das Berlinerische durch, sondern eher eine norddeutsche Variante. In jedem Fall waren die Sachsen die Verlierer, über deren Sprache man sich lustig machte, vor allem, wenn sie beruflich aufsteigen wollten. Der soziale Druck, Sächsisch zu vermeiden, führte zum Verschwinden des Dialekts. Spätestens vor 100 bis 150 Jahren ist der sächsische Dialekt weitgehend ausgestorben.
Diesen Hintergrund kennt heute doch fast keiner mehr.
Das stimmt, das schlechte Image ist dennoch geblieben.
Wie gehen junge Leute mit dem Sächsischen um?
Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass dreijährige Kinder in größerem Maße die Standardsprache anwenden als ihre Eltern. Generell existiert ein starker Drang, den Dialekt aufzugeben. Doch es gibt auch Jugendliche, die bei »youtube« Videos auf Sächsisch hochladen. Sie sprechen das gar nicht im Alltag, sondern sie spielen gewissermaßen Sächsisch. Dafür übertreiben sie den Dialekt und typisieren ihn, wie es auch im Kabarett geschieht. Sächsisch bekommt damit eine ganz neue Funktion. Es wird zum Stil, man könnte auch sagen stylisch.
Interview: Heidrun Böger
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