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Die Sehnsucht, ein Anderer zu sein
»Kippenberg« von Dieter Noll: Der Roman wurde kein Renner und sagt doch viel über das Land, in dem er entstand
Die Begeisterung für seinen Bestseller »Die Abenteuer des Werner Holt« (1960) lebt im Gedächtnis seiner Leser. Für andere ist Dieter Noll (1927-2008) schmählich in Erinnerung durch seinen in dieser Zeitung 1979 veröffentlichten Brief an Erich Honecker, in dem der Schriftsteller den Generalsekretär der SED im »harten Kurs« der Partei bestärkte und seine gerade aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossenen Kollegen »kaputte Typen« nannte. Und anbiederisch empfahl er sein gerade erschienenes Buch »Kippenberg«. (Dafür haben ihn die meisten seiner Kollegen für lange Zeit abgelehnt und gemieden. Noll litt unter dieser Verachtung. 1989 entschuldigte er sich bei denen, die er diffamiert hatte – eine Geste, die in den Aufregungen der Wende nicht viel Aufmerksamkeit fand.)
Ich weiß nicht, ob Erich Honecker die über 600 Seiten je gelesen hat. Dass sie ihm gefallen haben könnten, bezweifle ich, denn der Roman beschreibt Ereignisse in einem wissenschaftlichen Institut im Jahre 1967. Damals wollte Walter Ulbricht neue Methoden in Wirtschaft und Wissenschaft, »Neues Ökonomisches System des Sozialismus« (NÖS) genannt, einführen. Noch tief in Ulbrichts Zeiten hatte Noll sein Buch begonnen und sehr lange daran geschrieben. Ehrgeizig, wie er war, wollte er den großen Erfolg seines »Werner Holt« überbieten. Es ging ihm um richtige oder falsche Arbeits- und Lebensweisen, um Ideale, Werte, Traditionen, alles ein bisschen mehr konstruiert als erfahren.
Der Protagonist des Romans, Joachim Kippenberg, war ein steil nach oben gelangter Wissenschaftler aus der Holt-Generation, jetzt Leiter einer Arbeitsgruppe, die auf neue Art zusammenarbeitet: interdisziplinär, nicht hierarchisch, neue Fragestellungen und Methoden anwendend. Natürlich haben sie mit den an alten Gewohnheiten hängenden Kollegen Kämpfe auszutragen, dabei ermüdet Kippenbergs Elan und er schließt Kompromisse und faule Abmachungen. Eines Tages – 1967 – bietet sich ihm jedoch die Chance zur Wende. Er und seine Mitarbeiter müssten ein liegengebliebenes, angedachtes Projekt zu einem industriemäßigen Verfahren entwickeln, was viele Valuta einsparen würde. Das sprengt die Strukturen ihres Instituts, verlangt Selbstständigkeit, eine enge Beziehung zur Praxis.
Etwas Ähnliches war mit besagtem »Neuem Ökonomischem System« angedacht, aber in Praxis und Politik längst gescheitert. Wollte nun Noll, indem er das Gelingen des Projekts in seinem Buch beschreibt, noch einmal den Stachel löcken und die Seinen ermahnen, kreativer, flexibler und selbstständiger zu arbeiten? Dass gerade das eine bürokratische Planwirtschaft und ihre verknöcherten Funktionäre nicht zuließen, zeichnete sich doch ab und wissen wir heute genauer. Hatte Noll vieles nicht mitbekommen oder beschrieb er eine Utopie, an der festzuhalten er mahnte? War er einer Illusion erlegen? (Nach 1989 hat er sich kaum an Diskussionen in der Öffentlichkeit beteiligt, und es hat ihn auch keiner befragt.)
Die Handlung des Romans folgt altem Muster: Routiniert gewordener Erfolgsmensch gerät in eine Krise, Mann trifft auf jüngere Frau und will ein Anderer werden. In solchen Geschichten strampelt der Held und bleibt schließlich der Alte. Noll schrieb sein Buch, da man an den »neuen Menschen« glaubte und jeden für entwicklungsfähig hielt. Kippenbergs Wandlung sollte als Beispiel dienen: mutig geworden und ehrlich, den Ehrgeiz in den Dienst der Sache gestellt.
Der Roman wurde kein Renner. Trotz spannender Handlung, ausufernder Gespräche und tiefer Einsichten. Trotz eines bunten Figurenensembles viele Klischees: der mittelmäßig Begabte als Intrigant, der ehemalige Buchenwaldhäftling als der geduldige Revolutionär, der bürgerliche Forscher, der die Zeichen der Zeit nicht versteht, junge Querdenker, alleinstehende tüchtige Frauen.
Heute gelesen, mutet das Buch wie ein großes Kuriosum an – ein Wirrwarr von Vorstellungen über eine Welt, die es so nie gab und die dennoch Details enthält, die an Vergangenes erinnern. Es ist auch der indirekte Appell, sich ändern zu müssen; eine Sehnsucht, ein Anderer zu sein als der man ist. Halt Literatur von früher.
Dieter Noll: Kippenberg. Roman. Das Neue Berlin. 510 S., geb., 12,95 €.
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