Wie wunderbar menschlich

Auf Jesus folgt Joseph: In Oberammergau inszenierte Christian Stückl den Roman von Thomas Mann

  • Lesedauer: 8 Min.
Neu am altem Ort: »Joseph und seine Brüder« heißt die neueste Aufführung im Oberammergauer Passionstheater. Am gestrigen Freitag war die Premiere. Die Joseph-Tetralogie ist das umfangreichste Romanwerk von Thomas Mann. Literarisch ausgeformt wird darin der Lebensweg des Lieblingssohns von Jaakob, einem der biblischen Patriarchen. Christian Stückl inszenierte den Joseph-Roman in einer eigenen Textfassung.
Um die Pest zu bannen, gelobten die Oberammergauer 1633, alle zehn Jahre ein Passionsspiel zu veranstalten. Die erste Aufführung war 1634, 1680 wurde das Spiel auf die Zehnerjahre verlegt. Unter Regie von Christian Stückl, der seit 1987 gewählter Spielleiter ist, erfolgte eine umfassende Reform. Zu den 41. Passionsspielen 2010 kamen über 500 000 Besucher. Zuschauerraum und Freiluftbühne des Passionstheaters wurden Ende der 90er Jahre komplett renoviert und modernisiert.

www.passionstheater.de
Neu am altem Ort: »Joseph und seine Brüder« heißt die neueste Aufführung im Oberammergauer Passionstheater. Am gestrigen Freitag war die Premiere. Die Joseph-Tetralogie ist das umfangreichste Romanwerk von Thomas Mann. Literarisch ausgeformt wird darin der Lebensweg des Lieblingssohns von Jaakob, einem der biblischen Patriarchen. Christian Stückl inszenierte den Joseph-Roman in einer eigenen Textfassung. Um die Pest zu bannen, gelobten die Oberammergauer 1633, alle zehn Jahre ein Passionsspiel zu veranstalten. Die erste Aufführung war 1634, 1680 wurde das Spiel auf die Zehnerjahre verlegt. Unter Regie von Christian Stückl, der seit 1987 gewählter Spielleiter ist, erfolgte eine umfassende Reform. Zu den 41. Passionsspielen 2010 kamen über 500 000 Besucher. Zuschauerraum und Freiluftbühne des Passionstheaters wurden Ende der 90er Jahre komplett renoviert und modernisiert. www.passionstheater.de

ND: Herr Stückl, im vergangenen Jahr haben Sie in Oberammergau Jesus inszeniert, in diesem Jahr Joseph. Wollen Sie nach dem Neuen Testament auch das Alte fit fürs Theater machen?
Stückl: Alle zehn Jahre gibt es in Oberammergau die Passionsspiele. Das ist Tradition seit dem 17. Jahrhundert. Es ist inzwischen längst nicht mehr nur eine religiöse oder folkloristische Tradition, sondern Ausdruck leidenschaftlichen Theaterspiels eines ganzen Dorfes. Soll diese Leidenschaft neun Jahre lang brach liegen? Deshalb nutzen wir seit 2005 das Passionsspielhaus auch in den Zwischenjahren für Inszenierungen. Was ist dafür geeigneter als Geschichten aus dem Alten Testament, aus den heiligen Schriften des Judentums?

»Joseph« ist also kein Beginn, sondern eine Fortsetzung.
Begonnen haben wir im Sommer 2005 mit »König David«, sozusagen dem Remake einer Oberammergauer Aufführung von 1905. Zwei Jahre später folgte eine Inszenierung von Stefan Zweigs 1917 veröffentlichtem Drama »Jeremias« über den Krieg der Juden gegen den Babylonierkönig Nebukadnezar. Auf dieser Schiene, die sich sowohl künstlerisch-kreativ wie kommerziell erfolgreich zeigte, wollen wir weitermachen.

Weshalb fiel Ihre Wahl jetzt auf die Joseph-Geschichte?
Die Joseph-Erzählung im 1. Buch Mose und deren literarische Ausformung in Thomas Manns Roman-Tetralogie hat mich seit jeher fasziniert. Da ist erst einmal die Auseinandersetzung mit dem Alten Testament, die ja unglaublich spannend ist. Weil letztlich alles, was im Christlichen geglaubt, worum gestritten, worüber diskutiert wird, im Alten Testament wurzelt. Und bei Joseph haben wir bereits die Geschichte, dass einer denkt, er sei der Messias, der überzeugt ist, derjenige zu sein, der die Welt ins Heil führen wird, der aber immer wieder die profane Welt mit Gottes Welt verwechselt und der dadurch immer wieder auch an sich selbst scheitert. Wie wunderbar menschlich.

Thomas Mann hat ja sein Joseph-Werk sogar als eine »abgekürzte Geschichte der Menschheit« bezeichnet.
Das ist natürlich sehr hoch gegriffen. Aber ich denke, dieses Scheitern, diese Dialektik von Katastrophen und Aufrichtungen machen die Joseph-Geschichte nicht nur zu einer Menschenbeschreibung, sondern in der Tat zugleich zu einer Menschheits-Beschreibung.

Wenn Joseph ganz am Anfang sagt, er habe den Traum vom Vorrang gegenüber seinen Brüdern, dann ist das der Beginn der unendlichen Geschichte von Karrierewillen, von Intrigen, von Neid und Missgunst, von Abstürzen, von Comeback, von Läuterung, Umkehr, Altruismus. Das prägt die Gesellschaft, die Politik, das menschliche Mit- und Gegeneinander. Gestern, heute und auch morgen. Auf der Bühne können das natürlich nur Streiflichter sein.

Wie bekommt man ein Mammutwerk wie den vierbändigen Roman von Thomas Mann in eine bühnentaugliche Fassung?
Das ist zweifellos ein Riesenbrocken, an den sich erstmals vor zwei Jahren ein Theater gewagt hat: 2009 brachte das Düsseldorfer Schauspielhaus Manns Romanwerk auf die Bühne. Das war für mich der Anstoß, in Oberammergau nachzuziehen. Als ich die Bühnenfassung von John von Düffel las, wurde mir allerdings klar, dass diese – so erfolgreich sie in Düsseldorf war – in Oberammergau nicht funktioniert. Für die gewaltigen räumlichen und optischen Dimensionen des Passionsspielhauses war mir das viel zu reduziert. Also musste ich eine ganz andere, eigene Fassung schreiben. Dazu habe ich diesen Riesenroman wieder und wieder durchforstet. Ich habe herausgefiltert, wieder verworfen, wieder gefiltert, zusammengefügt, Sätze umgestellt, Abfolgen verändert. Und hatte dabei immer den Vergleich mit dem gigantischen Original im Kopf, das natürlich erkennbar bleiben musste – in Geist wie auch in Buchstaben. Über Monate hat mich das beschäftigt.

Die Romanfiguren halten oft sehr lange, bisweilen wohl allzu lange Reden. Solche Dialoge sind nicht gerade theaterfreundlich.
Das war die eine Seite des Problems. Andererseits ging es mir häufig auch so, dass ich mir an Stellen einen Dialog wünschte, wo eben gerade keiner war, wo ich also selber die Erzählung in eine Dialogform bringen musste. Natürlich musste ich die Geschichte extrem raffen. Deshalb habe ich entschieden, das erste Buch, »Die Geschichten Jaakobs«, nicht zu erzählen, sondern gleich beim zweiten Buch, »Der junge Joseph«, einzusteigen. Dennoch habe ich wiederum Texte aus dem ersten Buch gebraucht, um das Ganze in eine Form zu bringen. Eine große Hilfe war für mich Gert Westphal. Leider ist Thomas Manns »oberster Mund«, wie Westphal einmal von Katia Mann genannt wurde, 2002 verstorben. Aber er hat »Joseph und seine Brüder« als Hörbuch eingelesen – 30 CDs. Die habe ich im Auto abgespielt und dem gesprochenen Wort, das ich ja auf die Bühne bringen wollte, nachgespürt, seinem Klang, seiner Wirkung.

Und das alles, so muss man ergänzen, haben Sie neben Ihren anderen künstlerischen Verpflichtungen getan. Gerade erst wurde von Ihnen an der Hamburger Staatsoper Hans Pfitzners »Palestrina« inszeniert.
In der Tat sah es mit »Joseph« zeitweise ziemlich eng aus. Knapp sechs Wochen vor dessen Uraufführung war die Palestrina-Premiere. Ich musste ständig pendeln zwischen Hamburg und Oberammergau – nicht gerade eine günstige Konstellation. Erste Proben in Oberammergau liefen nicht nur parallel mit der Palestrina-Arbeit, sondern auch mit dem Schreiben des Joseph-Textes. Aber auch bei uns in Oberammergau gilt der alte bayerische Spruch: »Wer ko, der ko.« Und so kann unser Team getrost den kommenden Vorstellungen entgegensehen.

Die Joseph-Geschichte ist ja weit weniger bekannt als die Passionsgeschichte Jesu. Auch Thomas Mann wendet sich wiederholt an den bibelfesten Leser. Andererseits sind bei den Theaterbesuchern wohl kaum umfangreiche Vorstudien zu erwarten ...
Sicher ist es heute oft umgekehrt: Dass nämlich nicht der Vielbelesene im Theater die Umsetzung von Literatur aufnimmt, sondern dass Literatur durch das Theater vermittelt wird. Im Kino, im Film ist das ja ähnlich. Wir müssen an Erwartungen anknüpfen, aber auch an zu erwartendes Vorwissen, aus dem dann Aha-Effekte und Assoziationen entstehen.

Erinnerungen an biblische Geschichten, auch an Joseph und natürlich an Thomas Manns Roman, hat das Publikum in der Regel. Unsere Aufgabe ist es, die Geschichte stimmig, vor allem spannend zu erzählen. Zudem ist Oberammergau ein idealer Ort, sich mit Mythen, mit Religion, mit ihren Protagonisten und dem historischen Umfeld auseinanderzusetzen. Die Zuschauer, die hierher kommen, erwarten das und bringen die Bereitschaft mit, sich großen Bibelstoffen konfrontiert zu sehen.

In den Joseph-Romanen geht es auch um das menschliche Gottesbild, seine Ausprägungen und seine Wandlungen. Spiegelt sich das in Ihrem Stück?
Thomas Mann hat sich ja in nachgerade besessener Weise mit dem Gottesbild beschäftigt. Man spürt beim Lesen der Joseph-Bücher förmlich, wie er sich hineingegraben hat in die ägyptische Götterwelt ebenso wie in die jüdischen Religionsvorstellungen und deren Ausgreifen auf das Christliche. Da hat man oft das Gefühl, dass Passagen direkt hinweisen auf Jesus, auf das Neue Testament.

Diese Konnotationen auszubreiten und schlüssig zu vermitteln, dafür sind einem Theaterabend schlicht Grenzen gesetzt. Deshalb konzentrieren wir uns auf Joseph, auf diesen Menschen, der nach oben will. Immer wieder, allen Rückschlägen zum Trotz. Und der sich dabei von einem Gottesbild leiten lässt, dass er sich sozusagen selber maßschneiderte, der aber am Ende erkennt, dass er »kein Gottesheld und kein Bote geistlichen Heils«, sondern »nur ein Volkswirt« ist. Aber diese den Roman durchziehenden Auslassungen über die Gottesvorstellungen Josephs, des Vaters, der Juden, der Ägypter – die mussten wir zwangsläufig kappen. Sonst wäre es monologisierendes Theater geworden.

Sie waren 2010 bereits zum dritten Mal in Folge Spielleiter der Oberammergauer Passionsspiele. Der göttliche Jesus und der menschliche, allzu menschliche Joseph – gibt es da Übergreifendes, Verbindungen?
Jesus und Joseph werden beide verraten, der eine von Judas, der andere von seinen Brüdern. Es gibt bei beiden die Auferstehung, Jesu leibliche und Josephs symbolische – aus dem Brunnen, in den er von seinen Brüdern geworfen wurde, und später aus dem Kerker des Pharaos. Es gibt weitere Bezüge, die Thomas Mann literarisch ausgiebig genutzt hat. Dennoch: Joseph ist völlig anders als Jesus. Ihm fehlt dessen kompromisslose Redlichkeit, die Anspruchslosigkeit, diese pazifistische Friedfertigkeit. Joseph ist ein gewiefter Manager, er kann Leute gegeneinander ausspielen, er ist ehrgeizig, bringt es bis zum Stellvertreter des Pharaos. Zwar sieht er sich in all seinem Tun von Gott geleitet, aber aus diesem Glauben kann man sehr pragmatische Züge herauslesen. Insofern ist der Joseph auf der Bühne dieses Jahres mit Blick auf den Jesus des vorigen Jahres für mich zugleich Kontrast und Kontinuität.

Die Kontinuität zeigt sich auch darin, dass der Joseph 2011 vom Jesus 2010 gespielt wird.
Wie das Passionsspiel ist »Joseph« ein Heimspiel. Mit rund 250 Oberammergauer Laiendarstellern, Chorsängern und Musikern, die Passionserfahrung haben. Frederik Mayet, im vorigen Jahr Jesus, spielt Joseph und Andreas Richter, der ebenfalls als Jesus auf der Bühne stand, seinen Bruder Ruben. Ihren Vater Jaakob gibt Anton Burkhart, der 2010 den Hohepriester Kaiphas verkörperte. Auch Stefan Hageneier, der Bühnenbild und Kostüme schuf, sowie Markus Zwink, der die Musik komponierte, sind wieder mit von der Partie. Sie und die anderen Mitstreiter, diese ganze tolle Truppe, sind der Hauptgrund, dass es mich von München, Salzburg und anderswo immer wieder zurück nach Oberammergau zieht. Hin zu diesen Menschen, die für mich Heimat bedeuten.

Interview: Ingolf Bossenz

Weitere Vorstellungen:16., 29. und 30. Juli sowie 5., 6., 13. und 14. August.

Christian Stückl wurde 1961 im oberbayerischen Oberammergau geboren, wo er 1981-84 eine Lehre als Holzbildhauer machte und ab 1981 eine Theatergruppe aufbaute. 1987 wurde er Regieassistent an den Münchner Kammerspielen und im selben Jahr zum Spielleiter der Oberammergauer Passionsspiele 1990 gewählt (Wiederwahl 1996 und 2005). Seit 2002 ist Stückl Intendant am Münchner Volkstheater. Er arbeitete als Gastregisseur unter anderem in Wien, Bonn, Karlsruhe, Hannover und Mysore (Indien). Stückl inszenierte Hugo von Hofmannsthals »Jedermann« für die Salzburger Festspiele und in Köln Ludwig van Beethovens »Fidelio«. 2006 gestaltete er im Auftrag des österreichischen Aktionskünstlers André Heller die Eröffnungsfeier der Fußball-WM in München.

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