Die Frage »Warum?« will niemand beantworten
Ein Jahr nach dem Loveparade-Unglück: Wer ist schuld, wer haftet?
Wenn am Sonntagnachmittag die Überlebenden des Loveparade-Unglücks und die Hinterbliebenen der zu Tode Gequetschten zusammenkommen, dann wird ein Mann nicht dabei sein: Adolf Sauerland. Bis zu jenem 24. Juli 2010 war er als Oberbürgermeister der Stadt Duisburg durchaus populär, seitdem ist er eine Hassfigur in der von Strukturwandel, Arbeitslosigkeit und Armut gepeinigten Ruhrstadt. Statt seiner werden die nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) und »der Graf«, Sänger der Band »Unheilig«, die schwere Last auf sich nehmen, in der MSV-Arena in Duisburg Trost zu spenden.
Niemand behält mehr den Überblick über all die Rücktrittsforderungen, die im Laufe der letzten 365 Tage gegen den Christdemokraten Sauerland erhoben wurden. Bereits am Tag nach dem Unglück lehnte er es ab, Verantwortung zu übernehmen. Er wolle zur Aufklärung beitragen. Allein schon deshalb müsse er im Amt bleiben, sagte Sauerland lapidar. Und er ließ nicht beirren, ignorierte Beschimpfungen, ein Ketchup-»Attentat« und selbst Morddrohungen. Erst jetzt, da ihm die Abwahl bei einem möglichen Bürgerentscheid droht, entschuldigte sich Sauerland bei den Betroffenen.
Als – in jedem Sinne des Wortes – furchtbar ungeeignet hatte sich der ausrangierte Güterbahnhof im Herzen der einstigen Kohle- und Stahlmetropole Duisburgs erwiesen, auf dessen Gelände ein fröhliches Techno-Fest begangen werden sollte. Der einzige Eingang fungierte zugleich als einziger Ausgang, führte in einen allzu engen Tunnel. Tausende strömten noch auf das Gelände, als Hunderte in Gegenrichtung hinausdrängten. Panik brach aus. Menschen trampelten über Menschen – am Schluss waren 21 junge Menschen tot, 500 zum Teil schwer verletzt und noch viele mehr für ihr Leben gezeichnet.
»Viele von ihnen sind seit dem Ereignis auf professionelle Hilfe angewiesen, haben im Alltag Probleme oder kommen in ihrem Beruf nicht mehr zurecht«, sagt Julius F. Reiter, der für die Entschädigung von 76 Mandanten streitet. Der Jurist verweist auf »eine Katastrophe nach der Katastrophe«: Zwar habe das Land Nordrhein-Westfalen mit einem 1,5 Millionen Euro schweren Fonds schnelle finanzielle Hilfe geleistet. Die Schuldfrage jedoch sei ungeklärt, und damit auch die Frage, wer die Opfer künftig entschädige. Nach einer Absprache zwischen der Versicherung »Axa« und der Stadt würden bislang nur »einige Geld bekommen«. Das seien aber »nur kleine Hilfen«, so der Anwalt.
Die Verantwortung wird indes hin- und hergeschoben – zwischen dem Veranstalter »Lopavent«, der städtischen Verwaltung und der Polizei. Klar ist: Alle haben offenbar schwere Fehler begangen. So soll ein leitender Polizeibeamter den verhängnisvollen Befehl gegeben haben, eine Eingangsschleuse komplett zu öffnen. Der Veranstalter soll viel zu wenige Ordner und die auch noch falsch eingesetzt haben. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung gegen 16 Verdächtige dauern noch an. Die beiden Männer, die vielen als Hauptverantwortliche für das Unglück gelten, sind aber nicht darunter: Adolf Sauerland und Rainer Schaller, oberster Fürsprecher respektive Organisator des katastrophal verlaufenen Events.
Doch die vermeintlich individuellen Fehler am Unglückstag können die Massenpanik nicht allein erklären. Das Event sollte unbedingt in Duisburg stattfinden – Risiken hin, Risiken her. Die Loveparade war seit Mitte des letzten Jahrzehnts eine Reklameveranstaltung auf Gegenseitigkeit. Veranstalter Schaller warb damit für seine Fitnesstudio-Kette »McFit«. Und die Ruhrgebietsstädte, die dem Großereignis seit 2007 abwechselnd als Kulisse dienten, warben für sich.
Auch Duisburgs OB war von der Idee begeistert: »Ich betrachte die Loveparade als eine gute Gelegenheit, der Welt zu zeigen, wie weltoffen, tolerant und insbesondere spannend unsere Stadt ist.« Spannend und mit Sauerland an der Spitze. Später sollte dem Christdemokraten vorgeworfen werden, er habe die Loveparade durchgedrückt – wider alle Bedenken von Polizei, Feuerwehr und Verwaltung.
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