Schützer, Schützen – und Schutzlose

Am morgigen Dienstag in der ARD, 22.45 Uhr: Die Dokumentation »Geheimsache Mauer«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.
Schützer, Schützen – und Schutzlose

Der August hat begonnen. In einer Art, als arbeite er jener lieblichen Novelle von Vladislav Vancura über traurige Clownerie und heiteres Verzweifeln zu, die vor Jahrzehnten auch zu einem melancholisch verspielten Jiri-Menzel-Film ganz aus Regenzeit wurde; beides trägt den schön-bezeichnenden Titel »Launischer Sommer«. Das ist es, was draußen abläuft.

Vor fünfzig Jahren der August war heiß. Die Dokumentation »Geheimsache Mauer«, morgen 22.45 Uhr in der ARD (Arte präsentierte sie am Sonnabend), zeigt in einer Szene Menschen im August 1961 an einem überfüllten Berliner Badesee-Strand. Kurz vorm 13. Tag des Monats. Ein Gewöhnlichkeitsausschnitt. Eine Alltagsillustration. Alles heutige Wissen um jenen deutschen Schicksalstag, der sich demnächst zum 50. Male jährt, erhebt diese Wochenschau-Minute ganz aus Unbeschwertheit zum Sinnbild für das Wesen des Geschichtlichen: Hinter den Kulissen ist es Machtgebaren, Plan, bös-ernstes Schachspiel, aber: Für Millionen Menschen ist es das, was sich über ihnen zusammenbraut, ohne dass jemand etwas ahnt – alsbald aber, und immer über Nacht, wird es Schicksal, Lebensriss. Die einen »machen« also Geschichte, andere werden in ihr herumgeworfen wie bloßes Material für politische Statusbefestigungen.

Der Dokumentarfilm von Christoph Weinert und Jürgen Ast offenbart die Not der DDR unter Moskauer Diktaten; Chruschtschow als Befehlsgeber der Mauer, Ulbricht ist der unwillige, aber diszipliniert Folgsame. Grenzpolizisten erzählen, SED-Funktionäre führen in die Entscheidungsstäbe, Regimeflüchtige erschüttern durch ihre Erfahrungen mit Todesstreifen, Stasidruck. Einer überlebt nach Grenzdurchbruch – mit 17 Schüssen.

Es ist eine Chronik der stetig fies verfeinerten Grenzsicherungsanlagen. Leider wie so oft im Fernsehen der Neuzeit: Der Film wurde aus Spannungsgier per Animation vergröbert, mit Effekten aufgeziegelt, zudem verkitscht durch fiktive Illumination einzelner Erlebnisberichte. Aber den entscheidenden Wahrheitssog beeinträchtigt diese Dramaturgie nicht: Die Mauer machte mit jedem Tag ihres Bestandes deutlicher, dass letztlich nicht die gefährliche Krise zwischen Ost und West die wahre Frontlinie zog, sondern sich diese Front im Lande selbst befand – zwischen Freiheitsdrängenden und jenen sozialistischen Visionären, die quasi den Stacheldraht schluckten und trotzdem nicht zugeben wollten, an der Realität zu ersticken. Es gab viele, die sich in den großzügig bemessenen sozialen DDR-Reservaten ihren kleinen Freiheiten hingaben, deren größte die Utopie war – so dass die wirkliche, institutionell gesicherte Freiheit geradezu entbehrlich schien. Das Westmodell sowieso.

Da uns trotzigen Idealisten des Systems klar war, dass der innerste Impuls des Sozialismus schon immer aus Zurückweisungen der unwirtlichen Realität kam, war man auch nach dem Mauerbau nicht in Gefahr, sich durch die nach »drüben« schielenden »Spießer« und die aus dem Westen wühlenden Gegner beirren zu lassen.

Die Autoren des Films vertrauen der Kraft der Zeugenaussagen, zudem: Die Perfektionierung der Grenzanlagen ins Innere der Republik hinein sprechen sowieso für sich – und gegen alle nachträglichen Relativierungen. Wir sehen Menschen fliehend, blutend, verreckend im Stacheldraht, das brutale Räumen der Grenzwohnungen in der Berliner Bernauer Straße, das Staatsbegräbnis für einen erschossenen Grenzsoldaten, dabei Erich Honeckers gefrorene Trauerrede, als füge sich nicht Wort an Wort, sondern als klirre da Stein auf Stein.

Nicht, dass die Mauer zu Zeiten der DDR außerhalb des Bewusstseins derer existiert hätte, die für die DDR und in Übereinstimmung mit ihr lebten. Die Dokumentation offenbart in den ernüchternd offenen, die damalige Eiseskälte reproduzierenden Aussagen der Planer, Befehlsgeber und -ausführenden die gesamte Palette: Überzeugung, Angst, Anpassung, gefühllose Technokratie.

Unsere Tageszeitungen zum Beispiel erinnerten alljährlich am 13. August an den Bau dieser Grenze sowie an Soldaten, die an der Barriere zwischen den Welten ums Leben kamen. Mauerschützen, Mauerschützer. Die anders Verblutenden gab es für uns nicht. Eine Archivaufnahme zeigt den Verteidigungsminister der DDR, Heinz Hoffmann, am Rednerpult. »Wer unsere Grenze nicht achtet« – Pause, ein lächelndes Hochblicken, ein Schulterzucken – »der wird unsere Kugeln zu spüren bekommen.« Der Schießbefehl. Die besagte Kälte.

Wer erregte sich nicht über Honeckers Satz, den Flüchtigen in den Westen weine man keine Träne nach. Auch dieser Satz fällt im Film. Es ist ein Satz aus dem Jahre 1989, die Empörung darüber stammt auch aus dem Jahre 1989, genauer gesagt, aus jenem zweiten Teil des Jahres, da alles schon gegen uns entschieden war. Besagte Empörung platzte selbst den überzeugtesten Mitgängern des Staates heraus. Nur: Hätte Honecker diesen Satz früher gesagt, in den Hoch-Zeiten unserer ideologischen Überheblichkeit – Entrüstung wäre ausgeblieben. Wir weinten doch offiziell niemandem eine Träne nach, jahrelang nicht. Nicht den erschossenen Geflohenen an der Mauer. Nicht den Weggebliebenen, denen eine genehmigte Dienstreise bei der Flucht geholfen hatte. Nicht den Künstlern, die gestern noch DDR-Publikumslieblinge waren.

In seinem Buch »Gefängnis-Notizen« schreibt Egon Krenz: »Feindbilder gab es auf beiden Seiten. Auch ich bin durch ein Feindbild geprägt. Es war auf das politische System der Bundesrepublik fixiert, niemals jedoch auf die dort lebenden Menschen. Als ich in der Nationalen Volksarmee der DDR diente, hieß es: Unser Feind ist das imperialistische System, niemals der Bundesbürger als Person.«

So dachten viele. Aber ist es nicht, milde gefragt, Selbstlüge? Auf ein System kann man nämlich nicht schießen. Man muss schon auf Menschen zielen. Nach diesen eben zitierten Sätzen könnte man überspitzt folgern, dass Bundesbürger im Kampf der Systeme größere Schonung als jene DDR-Bürger genossen, die unserem System sehr konkret »als Person« entkommen wollten und doch Teil des Feindbildes waren. Sie wurden verachtet, abgeschoben, an der Mauer erschossen. Sehr persönlich. Sehr einzeln. Und bloß keine Träne! Und schaffte einer die Flucht – so ein Politoffizier der Grenztruppen im Film –, dann funktionierte der antrainierte Reflex, »ich sagte: Verflucht, das Schwein ist durch! Er war mein Feind.«

Honecker hätte seinen erwähnten Kommentarsatz im ND gar nicht zu sagen brauchen, der Satz lag immer in den Lüften und machte sie schneidend. Wer aus der DDR wegwollte, galt als ein Mensch niederer Bedürfnisse, falschen Ehrgeizes, mangelnden historischen Weitblicks. Als ließen diese Fliehenden nichts Gelebtes zurück, keine Hoffnungen, keine biografischen Wurzeln. Moral, so posaunten wir, ließen sie nicht zurück, nein, Moral, die bei uns eine höhere war, die verrieten sie angeblich. Und es stand für die DDR-Propaganda fest, welche Moral Gesetz war. Brecht: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.« Und das Fressen, das waren die neuen sozialen Verhältnisse, und die waren doch gut!, und wir verlangten sehr streng ein dankbares Verhalten – diese Dankespflicht gab der Moral die Vorgabe.

Aber Moral gründet sich zuallererst auf individueller Freiheit des Handelns – das schließt ein, unter Umständen gegen die Unzumutbarkeit der Verhältnisse aufzustehen, und es genügt, diese Verhältnisse vom eigenen, sehr subjektiven Standpunkt aus unzumutbar zu empfinden. Egal, was das Unzumutbare ist: die fehlende Freiheit der Meinung oder die fehlende Fernreise. Es gibt im individuellen Wertehaushalt leider – das kann sich eine Gesellschaft noch so sehr wünschen – keine Prioritätenliste, auf der das Soziale ganz oben stünde. Auch wenn es das Voraussetzende ist für die Befriedigung anderer Bedürfnisse.

Die gelebte Willkür in der sehr individuellen Bedürfnisskala ist ein Teil des Rechts auf Freiheit. Dieses Recht wird jedoch unmöglich in einer Gesellschaft, welche ihre politisch-sozialen Verhältnisse über alles stellt und jeden Menschen der Unmoral bezichtigt (und ihn züchtigt), der diese Verhältnisse angreift. Der Philosoph Volker Gerhardt sagt, der Marxismus sei im Namen der Moral betrieben worden, ohne ein Gespür für deren Sinn zu haben. Und es ist der DDR nicht gelungen, mit Druck durch ein autistisches Weltbild zu erreichen, dass die meisten Menschen den herrschenden akuten Mangel an vielem bereits als Zeichen einer lebenswerten weltgeschichtlichen Alternative betrachteten.

Der Film endet mit Fantasien einer High-Tech-Vision der nahezu unsichtbaren, aber unüberwindlichen Grenze. Wahr wurde anderes. Was in Berlin Mauer war, ist nur noch ein schmaler Pfad aus Pflastersteinen, zur Erinnerung eingelassen in den Asphalt der Straßen. Geschichte versank gleichsam im Boden, nicht vor Scham, sie bleibt: ein schamloses Geschehen. Man kann es bei Streifzügen durch die Stadt an der eigenen Wahrnehmung testen: Sogar für Alteingesessene hält sich nur mühsam das Wissen, wo der staatserhaltende wie staatszerstörende Wall einst verlief. Jene zwei Reihen Pflastersteine, die den Verlauf der Mauer markieren, glänzen graubraun, mickrig gegen das übermächtige Vergessen.

Das ehemals Unüberwindliche schrumpfte zur Unebenheit im Straßenbelag. Das ist der schreckliche, ungewollte Triumph des Lebens über die an der Grenze Getöteten. Die etwas für ihr Leben taten, das sie nicht überlebten.

Hoffnung drängt sich auf, dass diese Toten wirklich tot sein mögen. So bliebe ihnen von dort, wo sie auch uns erwarten, der ohnmächtige Blick erspart auf jene spielerische Leichtigkeit, mit der Menschen heute überqueren, was doch Vernichtungsstreifen war.

Die Mauer. »Stalins Denkmal für Rosa Luxemburg« (Heiner Müller). Es gibt viele Möglichkeiten für Erklärungen. Aber keine einzige Chance mehr auf Verständnis.

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