»Den Geist des Grundgesetzes offensichtlich missachtet«
Offener Brief von Bundestagsvize Wolfgang Thierse (SPD) sorgt in Sachsen für Kontroversen / FDP: Selbsterklärter Märtyrer
In Sachsen, klagt Wolfgang Thierse, »gerät man offenbar leicht in Verdacht«. Anlass für die Feststellung, die der SPD-Mann und Vizepräsident des Bundestages an den Anfang eines offenen Briefes an Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) stellt, sind Vorgänge am 19. Februar. Damals protestierten in Dresden 15 000 Menschen, unter ihnen Thierse, gegen den zweiten binnen einer Woche geplanten Naziaufmarsch. Im Laufe des Tages telefonierten viele der Demonstranten – und gerieten damit unfreiwillig ins Visier der Polizei. Diese überwachte an dem Tag, wer in Dresdens Innenstadt wann und mit wem telefonierte. Zuvor hatte auch das LKA entsprechende Daten erhoben. Insgesamt geht es um über eine Million Verbindungsdaten; von 40 732 Telefonbesitzern wurden zudem Namen, Anschriften und Geburtsdaten ermittelt.
Thierse räumt in dem Brief ein, Polizei und Staatsanwaltschaft hätten »nicht ohne jeden Anlass und nicht ohne jede formale gesetzliche Grundlage« gehandelt. Dennoch erhebt er schwere Vorwürfe gegen die Behörden. Diese hätten »offensichtlich den Geist des Grundgesetzes missachtet« und massenhaft systematisch in Grundrechte zehntausender Bürger eingegriffen. Ihnen sei »das Gefühl für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verloren« gegangen.
Diesen Eindruck teilen viele Beobachter, seit sich abzeichnet, was der Auslöser für die Handyabfrage im großen Stil war. Einmal geht es, wie Innenminister Ulbig stets betont, um Angriffe auf Polizisten, von denen am 19. Februar 112 verletzt wurden. Der weitaus größere Teil der Daten freilich wurde in einem Ermittlungsverfahren des LKA angehäuft, in dem bewiesen werden soll, dass etliche gewaltsamen Angriffe auf Rechtsextreme von einer abgestimmt handelnden linken Gruppierung ausgehen. Die Rede ist von knapp zwei Dutzend Verdächtigen. Vermutet wird, dass sie eine »kriminelle Vereinigung« bilden – was den Effekt hat, dass das gesamte Arsenal an Ermittlungsmethoden ausgeschöpft werden kann, inklusive einer Handyabfrage, bei der 40 732 Menschen ins Visier geraten. Thierse fragt angesichts dessen rhetorisch, ob die massenhaften Eingriffe in Grundrechte wirklich in vernünftigem Verhältnis zum Aufklärungsbedürfnis der Polizei stehen, und warnt, derlei Vorgehen könne »zu einer Bedrohung für die Demonstrationsfreiheit, den Rechtsstaat und die Demokratie« werden.
Ulbig selbst hat auf den offenen Brief noch nicht geantwortet; auf seiner Facebook-Seite teilte er am Montag mit, nach Ende seines Urlaubs müsse er noch zwei Stapel unerledigter Post abarbeiten. Eine Erwiderung auf Thierses Vorwürfe kam von der FDP, die mit Jürgen Martens den für die Staatsanwaltschaften zuständigen Minister der Justiz stellt. Parlaments-Geschäftsführer Torsten Herbst ging Thierse frontal an und nannte ihn wegen seiner Kritik an den Behörden einen »geltungsbedürftigen Populisten«. Thierse gefalle sich offenbar in einer »selbsterklärten Märtyrerrolle«, weil nach seiner pointierten Kritik am Vorgehen der Polizei gegen Protestierer im Februar, das er sarkastisch als »sächsische Demokratie« bezeichnet hatte, gegen ihn ermittelt wurde.
Der SPD-Landeschef Martin Dulig wiederum sprang für Thierse in die Bresche und warf seinerseits der Sachsen-CDU vor, in 21 Jahren Dominanz im Freistaat die sensible Balance zwischen Freiheit und Sicherheit verloren zu haben. Für sie sei bereits verdächtig, wer sich gegen Rechts engagiere. Ähnliche Kritik kommt indes längst nicht mehr nur aus Sachsen. Der jüngste »Spiegel« zitiert den Berliner Historiker Wolfgang Wippermann mit der Einschätzung, Sachsen sei das »rechtskonservativste und unfreieste Bundesland« der Republik.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!