Kosovo zwischen Nationalismus und Großmachtinteressen

Vorläufiger Kompromiss bedeutet kein Ende der Konflikte zwischen Serben und Albanern

  • Lesedauer: 4 Min.
Von Inge Höger und Carsten Albrecht

Der Grenzkonflikt im Norden Kosovos hat in den letzten Wochen derart an Schärfe gewonnen, dass der Kommandeur der NATO-Truppen in Kosovo, Erhard Bühler, ein »Blutbad« nicht ausschließen wollte.

General Bühler sagte, er habe Ende Juli »ein Blutbad verhindert«, indem er seinen Truppen nicht befohlen habe, serbische Sitzblockaden aufzulösen. Da ein solches »Blutbad« den heimischen Medien schlecht zu vermitteln gewesen wäre, einigte sich die NATO-Mission KFOR mit Serben und Albanern letztlich auf einen Kompromiss, um die Lage vorerst zu beruhigen. Bis Mitte September sollen KFOR-Truppen die beiden Grenzübergänge Jarinje und Brnjak kontrollieren und den Boykott serbischer Waren durchsetzen. Nur unter starkem Druck aus Belgrad haben die Kosovo-Serben angekündigt, ihre Straßenblockaden diese Woche zu räumen. Unklar bleibt, was nach dem 15. September passiert.

Inzwischen sind 700 Soldaten des KFOR-Reservebataillons ORF (Operational Reserve Forces) in die Region verlegt worden. Dazu gehören 550 Deutsche vom Raketenartilleriebataillon 132 aus Sondershausen in Thüringen. Bislang waren 5500 NATO-Soldaten in Kosovo stationiert, davon 917 Deutsche.

Der jüngste Kosovo-Konflikt ist symptomatisch für die Balkan-Politik der NATO und ihrer Verbündeten. Ablenkmanöver und Großmachtinteressen machen die Bewohner Nordkosovos gleichsam zu Spielgeld. Serbische nationalistische Kreise instrumentalisieren sie für den Versuch, Kosovo wieder in den serbischen Staat zu integrieren. Für die Kosovo-Regierung wiederum ist es praktisch, mit den Serben als »innerem Feind« einen Sündenbock zu haben. Und der NATO dienen die ethnischen Auseinandersetzungen in Kosovo als Begründung für die fortdauernde Truppenpräsenz.

Die »internationale Gemeinschaft« hat tüchtig geholfen, nationalistischen Kräften in Kosovo Aufwind zu verschaffen. In der Miloševic-Ära wurden die Kosovo-Albaner von der serbischen Regierung tatsächlich als Bürger zweiter Klasse behandelt. Doch war dies nicht der Grund, warum die NATO und ein Großteil der EU-Staaten die Abspaltungswünsche kosovo-albanischer Nationalisten unterstützt und befördert haben. Es entsprach dem »euro-atlanischen« Interesse, die Völker des ehemaligen Jugoslawiens gegeneinander aufzubringen. Viele kleine nationale Eliten lassen sich einfacher unter Kontrolle bringen als eine breite, kritische Masse. Hintergrund ist das Interesse der NATO-Staaten, den Balkan als Übergangsregion zwischen Mitteleuropa und dem Bosporus langfristig zu kontrollieren und als Auffangbecken für Flüchtlinge aus Nahost zu nutzen.

In den 12 Jahren, in denen Kosovo als »inoffizielles Semiprotektorat der EU und der Vereinigten Staaten« (so in der FAZ genannt) existiert, hat sich die NATO nicht nur gegen Serben, sondern auch gegen Albaner gewandt, wenn es zu Ausschreitungen kam, die die »Stabilität« in Frage stellten. Zuletzt im März 2011, als 15 000 Kosovo-Albaner an verschiedenen Orten teils gewaltsam gegen die Gefangennahme eines UÇK-Kriegsverbrechers demonstrieren, den sie als Nationalhelden betrachten. Nachdem die NATO-Truppen der Vertreibung von Serben aus Kosovo so gut wie tatenlos zugesehen und die Abspaltung der südserbischen Provinz umso tatkräftiger unterstützt hatten, versuchten sie in den letzten Jahren als Schutzmacht der serbischen Minderheit aufzutreten. Das gelang ihnen nur mäßig. Gerade im Norden, wo Serben in der Mehrheit sind, hielten sich die Ressentiments gegen die KFOR, wie es die jüngsten Ausschreitungen demonstrieren.

In den serbischen Enklaven im übrigen Kosovo stellt sich die Lage etwas anders dar. KFOR-Soldaten bewachen einige der Klöster, die für die serbisch-orthodoxe Kirche von großer Bedeutung sind. »Im Osmanischen Reich haben türkische Soldaten unser Klöster vor den Albanern bewacht. Im Zweiten Weltkrieg waren es die italienischen Carabineri. Und heute ist es die NATO.« Nüchtern analysierte Bischof Teodosije vom Kloster Gracanica nahe Priština die Situation kürzlich gegenüber einer Delegation der Linksfraktion im Bundestag.

Eine Lösung des Konflikts ist nicht ohne tiefgreifende Veränderungen im sozialpolitischen und wirtschaftlichen Bereich denkbar. Geschätzte 50 Prozent der Bevölkerung Kosovos sind ohne Arbeitsplatz. Vor diesem Hintergrund wies der Balkan-Experte Jonas Reese in einem Interview mit dem Deutschlandfunk darauf hin, dass die Perspektivlosigkeit der Jugend eine wichtige Ursache der Unruhen in Nordkosovo sei.

Für die Regierung Kosovos und die »internationale Gemeinschaft« sind die ethnischen Konflikte durchaus von gewissem Nutzen, lenken sie doch die Wut der Massen auf einen Stellvertreterfeind – die Kosovo-Serben. Damit wird die Bevölkerung nicht nur von der sozialen Misere abgelenkt, sondern auch vom Organhandel-Skandal, in den die Regierung verstrickt ist. Außerdem redet niemand mehr von den Vorwürfen der Wahlfälschung. Wie die Pariser »Le Monde« am 28. Juli berichtete, haben internationale Beobachter weiter große Zweifel am korrekten Ablauf der Wahlen 2010.

Auf serbischer Seite profitiert neben der Regierung auch die radikale Rechte vom Wiederaufflammen des Kosovo-Konflikts. Die großen serbischen Tageszeitungen sind dieser Tage voll von nationalistischem Pathos. Der Aufruf zur »nationalen Einheit« ist allgegenwärtig und behindert auch die Auseinandersetzung mit den drängenden Problemen Serbiens, wie Armut oder Korruption.

Inge Höger, Bundestagsabgeordnete der LINKEN, und ihr Mitarbeiter Carsten Albrecht haben Kosovo Ende Juni besucht.

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