Systemzwang zur Defizitbildung
Die konjunkturbelebende Schuldendynamik wurde verstaatlicht – und gelangt nun an ihre Grenze
Das Börsenbeben der letzten Wochen wird keine Episode bleiben. Es markiert den Beginn eines abermaligen globalen Krisenschubs, der sich aufgrund der finanziellen Erschöpfung der wichtigsten kapitalistischen Volkswirtschaften und Währungsräume klar abzeichnet. Nicht umsonst werden die Schuldenkrisen in der Eurozone und den USA oder die sich rasch eintrübenden Konjunkturaussichten für die dramatischen Kurseinbrüche an den Aktienmärkten verantwortlich gemacht.
Es ist kein Zufall, dass den Staaten und der Konjunktur zeitgleich die Puste ausgeht, bildeten doch die kreditfinanzierten Staatsausgaben den wichtigsten Konjunkturmotor der vergangenen drei Jahre. An die drei Billionen Euro wendeten die Regierungen weltweit nach Krisenausbruch für Konjunkturprogramme zur Ankurbelung der Wirtschaft auf, was in etwa 4,7 Prozent des Welteinkommens 2008 entsprach. Systemstabilisierend wirkten auch die krisenbedingten staatlichen Mehrausgaben für soziale Sicherungssysteme oder die milliardenschweren »Bail-outs« für strauchelnde Banken. In Wechselwirkung mit sinkenden Steuereinnahmen führten diese Mehraufwendungen zu einer regelrechten Explosion der Staatsverschuldung insbesondere in den Ländern, in denen zuvor Immobilienblasen geplatzt waren.
Die Auswirkungen auslaufender Konjunkturprogramme auf das Wirtschaftswachstum lassen sich sehr gut am Beispiel der USA nachvollziehen, die mit Gesamtaufwendungen von rund 800 Milliarden Dollar Ende 2008 das weltweit größte Maßnahmenpaket zur Wirtschaftsbelebung schnürten. Nachdem die meisten Konjunkturmaßnahmen Mitte 2010 ausliefen, schwächte sich das Wachstum von 3,8 Prozent im zweiten Quartal auf 2,3 Prozent im vierten Quartal ab. Inzwischen befinden sich die USA in Stagnation, wobei auch aufgrund der im Zuge der Anhebung der Schuldengrenze beschlossenen Sparmaßnahmen ein Abdriften in die Rezession sehr wahrscheinlich ist.
Die staatliche Krisenpolitik hat das Weltfinanzsystem nach dem Platzen der Immobilienblasen 2007/08 auch durch Staatsgarantien und den massenhaften Aufkauf »toxischer« Wertpapiere stabilisiert, die in den Bilanzen der Notenbanken geparkt wurden. Schließlich führte die historisch einmalige Niedrigzinspolitik der Notenbanken zur Herausbildung der gerade kollabierenden Liquiditätsblase an den Weltfinanzmärkten, die ebenfalls kurzfristig systemstabilisierend wirke.
Die Staaten halten im Endeffekt nun die konjunkturbelebende Verschuldungsdynamik aufrecht, die zuvor auf den jahrzehntelang expandierenden Finanzmärkten angetrieben wurde. Der Aufstieg der Finanzmärkte seit den 1980er Jahren ging mit einer Expansion des Kredits wie auch der privaten Verschuldung insbesondere in den USA einher. Die privaten Verbraucher in den USA, Irland, Spanien, Großbritannien und weiten Teilen Osteuropas halten mit ihrer schuldenfinanzierten Nachfrage die Wirtschaft am Laufen. Als globale Katalysatoren fungierten zusätzlich die Spekulationsblasen mit Aktien des High-Tech-Sektors (bis 2000) und auf den Immobilienmärkten (bis 2008). Die Staaten haben mit ihren Konjunkturprogrammen diese Defizitkonjunktur de facto »verstaatlicht« – bis zum drohenden Staatsbankrott. Die Krisenpolitik befindet sich somit in einem unlösbaren Widerspruch, da sie zugleich sowohl weitere Konjunkturprogramme wie auch Sparmaßnahmen durchführen müsste.
Es ist auch kein Zufall, dass dieser regelrechte Systemzwang zur Defizitbildung parallel zu den ungeheuren Produktivitätsschüben einsetzt, die ab den 1980ern im Gefolge der dritten industriellen Revolution die gesamte kapitalistischen Warenproduktion erfassen. Dank der Mikroelektronik und Informationstechnologie ist der Kapitalismus zu produktiv für sich selbst geworden – der private oder staatliche Kredit bildet die letzte systemimmanente Möglichkeit, die bereits über den Kapitalismus hinausweisenden Produktionspotenzen zumindest zeitweilig noch zu kontrollieren. Frei nach Marx ließe sich formulieren: Die Produktivkräfte sprengen gerade die Fesseln der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.
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