Fortgesetzte Ermittlung. Gegen sich selbst

Der Dichter Wolfgang Hilbig: Er wäre dieser Tage 70 geworden – ein Film und sein neu aufgelegtes Roman-Debüt

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 8 Min.

»... ich zeige Ihnen einen Dichter: Er ist hier nicht anwesend. Seine Abwesenheit quält; sein Anwesendsein wird Schwierigkeiten bringen: er ist ein Dichter. Er heißt Wolfgang Hilbig.«
FRANZ FÜHMANN

Der Mann ist seit vier Jahren tot, seine Bücher aber leben, wenn auch nur in kleinen Kreisen. Hilbig: immer ein Stein des Anstoßes, ein ewiges Ärgernis, ein in jeder Hinsicht schwieriger Autor (so was haben weder Zensoren noch der Markt gern), zumal einer mit Genie (das grenzt an Unverkäuflichkeit!) – man denkt an Grabbe, Rimbaud, Villon. Ein grob-zartes Seelenvieh, ein manischer Einzelgänger, ein triebhafter Schreiber und kühler Kontrolleur der für poetische Zwecke geliehenen Worte, zuletzt vor allem ein selbstzerstörerischer Trinker.

In seinen Texten leben die Paradoxe fort, aus denen er gemacht war. Dieser sprachmächtige Wortmagier war zugleich anrührend unbeholfen beim Sprechen, ein sich dauernd Versprechender, dem zuzuhören eine Mischung aus Qual und perversem Vergnügen war – immer mehr schien ihm seine Zunge im Wege zu sein.

Am 31. August wäre Wolfgang Hilbig 70 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass zeigt 3sat am Samstag »Hilbig. Eine Erinnerung«, und der S. Fischer Verlag bringt innerhalb der Werkausgabe seinen Roman-Erstling »Eine Übertragung« neu heraus. Anlass zu fragen, wer Hilbig, einer der großen deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts, eigentlich war. Zuerst einmal: nicht nur ein Autor, immer auch eine Figur, wie er sie sich selbst erdacht hat. Ein schmutziger, ein schäbiger Held, der die Wirklichkeit zu sehr verachtet, um gegen sie zu opponieren. Er schaut durch sie hindurch, so hässlich wie sie ist – und er sieht eine Schönheit, die nur ihm gehört, wenn er schreibt.

Man hat den aus Meuselwitz/Sachsen Stammenden mit Kafka verglichen – weder abwegig noch zu hoch gegriffen. Er gleicht aber auch jenem Heizer aus Kafkas »Amerika« – einer, der im Bauch des Schiffes mitfährt, die Maschine in Gang hält. An der Oberfläche zählt er nichts, trotz all seiner Kraft, den Kessel zu befeuern. Die an derartigen Funktionsdetails desinteressierten Passagieren ignorieren ihn

Hilbig, der sich nicht zum »Schreibenden Arbeiter« stempeln lassen wollte, so wie ihn sich die DDR-Kulturpolitiker vorstellten, ging über Grenzen, lange bevor er 1985 die eine nach Westen überschritt, die ihn von Meuselwitz trennte, von der verhassten Heimat, die er schreibend vernichten wollte, wie man die Kohle im Ofen verbrennt. Vielleicht entstünde dann endlich jene Hitze, die seine Existenz in dieser jämmerlichen Industrieprovinz rechtfertigte.

Aber Meuselwitz, das war auch er selbst – und je mehr er die Erinnerung daran verbrennt, desto weniger bleibt von seinem Ich. In seinem Heizhaus mit den Kohlenbergen kämpfend, sah er in seiner plebejischen Arbeit eine Form von Sklaverei. Diese Kette fesselte ihn an den Dreck. Worte notierend, flüchtete er und schleppte doch das Heizhaus überall mit hin. So sitzt auch der »Grüne Fasan«, diese Kohlenmonoxidphantasie, auf einem Brikettberg, den in die Feuerluke zu schaufeln sein Tag- und Nachtwerk ist. Wie dieser Fasan auf ihn zielte, »so war er herrlicher und schöner / als ein surrealistischer regenschirm auf einer nähmaschine / wie er dort saß genau und furchtlos verirrt / aus seinem schwarzen gipfel / konversation fand nicht statt«.

Doch, Konversation findet statt! Im Film von Siegfried Ressel »Hilbig. Eine Erinnerung« ist es der alte, verlassene Bahnhof von Meuselwitz, in dem das Set aufgebaut ist – ein trister Ort mit gekachelten Wänden. 3sat-Ambiente für ein Rundtisch-Gespräch über Wolfgang Hilbig. Ein Puzzle, das sich jeder zum Bild zusammenfügen muss. Ein disparater Chor von Karl Corino und Uwe Wittstock (seine Förderer West) über Gert Neumann und Strawalde bis zu frühen Freunden aus Meuselwitz. Wir hören von Hilbig, dem Turner und Boxer, der immer schwere Jacken (Kutten, fast wie ein entlaufener Mönch) trug, der ständig eine halbgepackte Tasche stehen hatte (Fluchtbewegung verinnerlicht), der schwieg und schrieb.

Sein Großvater, der aus Galizien nach Meuselwitz kam, war noch Analphabet; die Schwere der Worte haftet auch Hilbig an; es sind mythische Ur-Laute, wie sie durch des Großvaters Garten inmitten der Industriebrache klingen. Der Garten neben dem Tagebau – das ist Hilbigs Schule des Sehens. Hier beginnt sein Weg von Außen nach Innen: Die beschriebene Welt wird inwendig. Dem geht ein harter, ein geradezu zölibatärer Entschluss voraus, den er – man vermutet es kaum – mit Hermann Hesse teilt, der einmal bekannte: »Die Wirklichkeit ist das, womit man unter keinen Umständen zufrieden sein, was man unter gar keinen Umständen anbeten und verehren darf ... Und sie ist, diese schäbige, stets enttäuschende oder öde Wirklichkeit, auf keine andre Weise zu ändern, als indem wir sie leugnen, indem wir zeigen, daß wir stärker sind als sie.«

Ein Kraftbeweis, den Hilbig fortan führt. Im S. Fischer Verlag debütiert er, als man in der DDR noch versucht, ihn ganz totzuschweigen. Diese unerlaubte Veröffentlichung ist ein Vergehen mit strafrechtlichen Folgen. Nach dem Brüder-Grimm-Preis 1983 der Stadt Hanau konnte man ihn nicht länger totschweigen, so die Interpretation Corinos – und 1983 ist dann endlich auch der großartig graue Band »Stimme Stimme« bei Reclam Leipzig erschienen. So stimmt das bestenfalls halb. Corino erblickt im Gedicht »abwesenheit« einen Mangel an Autonomie: »wie lang noch wird unsere Abwesenheit geduldet / keiner bemerkt wie schwarz wir angefüllt sind / wie wir in uns selbst verkrochen sind / in unsere Schwärze«. Da wartet einer, dass eine höhere Instanz ihm erlaubt, anwesend zu sein – das findet Corino nicht widerständig genug, denn wer selbstbewusst genug sei, warte nicht, sondern fordere seine Anwesenheit direkt ein. Aber verschwindet denn so »unsere Schwärze«? Nein, Verzweiflung, Einsamkeit, Abwesenheitsschmerz – sie hören auch 1985 im Westen nicht auf – im Gegenteil!

Hier, ausgesetzt im Westen, den er im Verlust aller Wort-Zwischenräume ebenso unerträglich findet wie den Osten, nur dass er ihm noch fremder, gleichgültiger ist, hier stürzt er erst einmal völlig ab.

Die Übersetzerin Silvia Morawetz, eine seiner Lebensgefährtinnen, sagt, »Glück« sei keine Kategorie für ihn gewesen, in der er denken konnte. Und Natascha Wodin, mit der er lange zusammen lebte, weiß, dass Hilbig überall fremd blieb: »Er wollte nicht leben. Er wollte schreiben. Leben hat ihn belästigt.« Und immer habe er sich schuldig gefühlt. Er, der mit Frauen nicht leben konnte, war gleichzeitig von ihnen besessen.

Diese ansehenswerte kollektive Hilbig-Erinnerung hat einen schweren Makel. Nicht einer spricht von Franz Fühmann! Hilbigs Entdecker und Förderer hatte einen aufreibenden Kampf um solche jungen Autoren wie Hilbig, Kolbe oder Neumann geführt. Sein Verdienst war es vor allem, dass »Stimme Stimme« in der DDR erscheinen konnte. Ein Hoffnungszeichen – letztlich ein trügerisches. Fühmann wusste: Verliert die DDR junge Autoren wie Hilbig, die sich nicht mehr zensieren lassen, dann ist sie verloren.

Fühmann kämpfte auf verlorenem Posten, so 1982 in seinem imaginären Brief an einen Minister unter dem Titel »Ecce poeta«: »Bei diesem Autor zwingt die Abwesenheit ein naturhaft helles Lebensgefühl in die Bitternis der Verzweiflung ... Qual ungewollten Abwesendseins, und sie paart sich mit der Qual, einer Verlockung widerstehen zu müssen, die als Eintrittsbillet zur Anwesenheit Preisgabe von Erfahrung verlangt, partielle Selbstaufgabe also, die auf andere Art Schaffen und Wirken zersetzt.«

Der Westen überhäufte Hilbig mit Preisen, gelesen wurde er dort – bis heute – dennoch nicht mehr als sein Mentor Franz Fühmann. Was sie schrieben, ist sperrig, eine Zumutung. Man fühlt sich nicht wohl beim Lesen. Die eigene Existenz wird fragil – ein einziges »Provisorium«, wie ein Buch von Hilbig heißt, in dem er seine Existenz im Westen beschreibt. Was soviel heißt wie: nicht einmal ein Martyrium, sondern so banal wie Corinos Maßstäbe an Literatur, also überflüssig.

Der Lyriker Hilbig, der so verwirrend dichte Prosatexte schreiben konnte, in deren Tiefe man verloren zu gehen drohte – er wurde nun immer mehr gedrängt, das zu schreiben, was man am besten verkaufen zu können glaubte: Romane! Aber das konnte er nicht, dazu hatte er auch gar keine Lust, Handlung war ihm egal.

Wenn man »Eine Übertragung« heute liest, seinen (in schöner Aufmachung und mit klugem Nachwort von Jan Faktor) wieder aufgelegten Roman-Erstling, an dem er 1980 zu schreiben begann (zunächst ein kurzes verrätseltes Prosa-Fragment), der bei Fischer im Herbst 1989 erschien – dann wohnt man einem traurigen Satyrspiel bei. Da liefert einer, was von ihm gefordert wird – aber so, wie man das in der DDR machte, indem man unter der Hand etwas ganz anderes lieferte, sich also dem Geforderten verweigerte.

Insofern ist »Eine Übertragung« das wichtige Zeugnis der Selbstbehauptung eines Autors, der sich unverstanden und überflüssig vorkommt. Ein Kriminalfall, der den Autor weniger interessiert als etwa die Beschreibung von beliebigen Gegenständen im Raum. Eine Ermittlung gegen sich selbst, voller doppelter Böden. Ein Bericht aus dem Exil der Worte. Er spricht es provozierend direkt aus: »Den Bock der Konzeptionslosigkeit zum Gärtner der Konzeption zu machen war mir bald als die einzig noch denkbare Möglichkeit erschienen.«

Sein Unsicherheit (manchmal auch Ekel) erwächst aus der immer nur aufgeschobenen Kapitulation vor der Außenwelt mit ihren schmutzigen Kalkülen; schließlich aus der Resignation, niemals aus seinem ungeliebten Körper mit der Boxernase und den Heizerschultern herauszukommen. Weiterschreiben ohne Hoffnung, als sein eigener Doppelgänger: »Sie drehten mir einfach das Wort im Mund um und behaupteten, daß ich vor der Wirklichkeit auf der Flucht sei. Nun gut, sagte ich, sie konnten einfach nicht wissen, daß ich geteilt war – übrigens wie die Wirklichkeit selbst – und einen Teil von mir der Wirklichkeit völlig überlassen hatte, während der andere Teil, der schreibende Teil, eine Art Nichtexistenz war und andauernd um das Dasein rang.«

Hilbig. Eine Erinnerung. 27.8., 3sat, 22.55 Uhr.
Wolfgang Hilbig: Eine Übertragung. Roman. Fischer Verlag, 427 S.,geb., 22,95 €.

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