Eine saubere Schweinerei
Salzburger Festspiele: »Maß für Maß«
Seltsame Faszination geht aus von einer Spieltruppe, die auf offener Bühne sitzt; man spricht miteinander, privat wie jene, die gerade den Zuschauerraum des Theaters füllen. Alle wie: gleich und gleich. Den Übergang zum Spiel bewusst zu machen, ihn bewusstzumachen, so begann die Inszenierung »Maß für Maß« von Shakespeare, bei den eben zu Ende gegangenen Salzburger Festspielen. Wir spielen euch nur was vor, sagt der Moment, aber: Wir wollen euch dabei nichts vormachen! Das Spiel vom Ernst des Lebens.
Ein Herzog zieht sich zeitweise vom wenig erfolgreichen Regieren zurück. Stellvertreter Angelo also in der Prüfung: Wie wird er die Gesetze auslegen, die Rechtsordnung kräftigen? Er verurteilt einen jungen Mann zum Tode, der seine Geliebte (vor der Hochzeit) schwängerte. Verliebt sich in dessen Schwester Isabella – jene Nonne, die den Bruder retten will. So lockt sich Angelo in die Falle des gleichen »Verbrechens«, für das er andere köpfen lassen möchte. Und der Herzog? Kehrt, als Mönch verkleidet, in die Szene zurück. Beobachtet, zieht heimlich Fäden und die Schlinge um Angelo enger und enger. So knüpft sich eine windungsreiche, tolldreiste Geschichte um Macht und Machtmissbrauch, Persönlichkeit und Rollenspiel, Tugend und Sinnlichkeit, Verbotspolitik und Menschentrieb.
Thomas Ostermeiers Regie spuckt das Wort »Macht« verächtlich aus. Er lässt musikalisch mittelalterlich aufspielen (Musik: Nils Ostendorf), den Herzog aber mit Helikoptergeräuschen ausfliegen. Am hochgezogenen Kronleuchter, der zunächst wie ein gestürztes Wappen am Boden liegt, wird alsbald eine Schweinehälfte aufgehängt; grobes Sinnbild des Ganzen: eine Schweinerei. Und wie das Schlachtvieh da so baumelt, denkt man ein Quentchen weniger pathetisch über Sinn und Höhe und Heiligkeit der Existenz nach. Es gibt eine Herberge, in der alle willkommen sind: das Kühlhaus ...
Gert Voss als Herzog: eine grandiose Wach- und Lachnummer. Die Wachheit kommt aus dem unaufhörlich herzöglichen Ehrgeiz, in jeder Situation den Mittelpunkt zu entdecken und ihn unverzüglich zu besetzen. Voss präsidiert anmaßend noch im Beiläufigsten; wo er sich spreizt, tut er es gönnerhaft landesväterlich; wo er die Güte hervorkehrt, probiert ein Tyrann nur die neueste Schminke aus; wo er redet, spielt er schon die Fernsehkameras mit, die noch gar nicht erfunden sind. Voss' geniale Kunst der totalen Anverwandlung ergibt hier ein erschreckend spiegeltreues Bild des zum Darbietungsgeschäft verkommenen Politischen.
Und die Lachnummer resultiert aus der behenden Hinübernahme des Diabolischen in die Maske des Mönchs. Den Herzog in der Kutte taucht Voss tiefkomisch in alle schmutzigen Wasser, mit denen man sämtliche Intriganten, Hintermänner, graue Eminenzen, Doppelmoralisten, Heuchler und Spitzenspitzel wäscht, bis sie wie Saubermänner glänzen. Als Vermummter sorgt der Herzog für Gerechtigkeit, er rettet Leben, aber vorher tanzt er auf den gespannten Nerven aller Betroffenen, badet in fremder Qual – und: In seiner Maske hört er den Volksmund ungehemmt über ihn, den Regenten, reden, Voss macht daraus ein fein gestuftes Kabinettstück der beleidigten Herrschernatur, der mühsamen Selbstbesänftigung und des im Kostüm Eingesperrten, der seinen Groll stets nur heimlich zur Seite hinfeuern darf. Von flammendem Zynismus und dämonischer Logik (Voss' beste Szene!): das Ein-Reden des Mönches auf den unglücklichen Sterbekandidaten: Tod sei Lohn, Leben Lappalie.
Lars Eidinger ist Angelo, der plötzliche Stellvertreter. Gegenüber einem quirligen, als Herzog eitel sonoren, als Mönch krächzend an den Wänden sich entlang schleichenden, immer in tückischer Bewegung bleibenden Voss ist dem jungen Schauspieler zunächst nur wenig Raum gegeben. Fast droht der Inszenierung eine Gleichgewichtsstörung. Aber Eidinger hält großartig das aus, was sich mehr und mehr zur frappierenden Leistung steigert. Er zeigt ein regungsloses Babyface, in dem schon eine winzige Bewegung des Mundes, ein Flackern der Augen die Gier offenbaren, das Pochen der Machtlust hinter der Stirn; und unter der glatten Haut triefen die Lefzen des Wolfes. Eiskalt, mit Gummihandschuhen bewehrt, greift er zum Wasserschlauch, spritzt schwarzen Dreck aus Fugen des Palast-Kastens, der früher mal Gold gewesen sein muss (Bühne: Jan Pappelbaum). Spritzt den Dreck weg, der am Boden liegt: den zum Tode verurteilten Menschen. Säuberung. Eine Lehre, die rein sein will, steht eben eines Tages auf dem Schlauch.
Eidinger spielt so minimalistisch, dass man bald auf jeden Tropfen Schweiß auf seinem Gesicht achtet und diesen als weiteren Vorboten der inneren Anspannung, der brüllenden Explosion hält. Die kommen muss. Und mit der sich dann alles Bahn bricht, was so lange unterm guten Anzug gehalten wird: die Herrschsucht, das Begehren des Herzens, die Lebensansprüche des Unterleibes, die Angst vor der Wahrheit unter der Etikette. Wie sich ein Mensch in einen Stein verwandelte, der nur darauf wartete, auf die höchste Staatsebene geworfen zu werden – das war vor dem Stück. Jetzt ist zu sehen, wie sich der Stein in einen Menschen zurückverwandelt und ein wildes Tier entsteht. Eidinger spielt den Gefühlsstau, dann die blindwütige Kreatur. Er reißt geil an der Nonne, als seien Zähne sein Geschlechtsteil. Dem Prinzipienreiter springt ein Bock aus dem Körper. Er hängt sich – wohin mit den Schmerzen der Doppelnatur – kopfüber an den Kronleuchter, wo eben noch das andere Schwein hing.
Jenny König als Isabella spielt vor allem die Unerbittlichkeit einer Moral, die noch keine Zwischentöne kennt. Sie ringt um ihren Bruder, will ihn aber lieber sterben lassen, wenn ihre eigene Tugend dadurch ins Gefahr gerät. O Vorsicht! – vor einem Idealismus in gar zu jungen Körpern!
Irgendwie ein undurchdringliches Stück. Brutale Härte reibt sich im Klamauk auf. Menschliches und Gnadenloses schieben sich knirschend ineinander wie Bleche bei einem Autounfall. Der Henker Angelo erhält ein Lebenslänglich seltsamer Art: Er wird zur Heirat verurteilt. Drei weitere Hochzeiten folgen. Tanz quasi dort, wo eben noch das Blutgericht stand. Wohlgefallen legt sich über alles. Shakespeare als Daunendecke. Wer's glaubt, wird nicht selig, und das ist der Trick: Man nimmt hier nichts hin, ohne immerfort dessen Gegenteil zu denken – was am ehrlichsten daherkommt, erweckt das größte Misstrauen; und noch im Schäbigsten lebt eine erzählenswerte Hoffnung; das Politische ist nichts weiter als die Verwaltung der Unberechenbarkeit von allem und allen. Als wolle uns die Kunst bewusst machen, was für Existenz und Gesellschaft überhaupt gilt.
Thomas Ostermeiers Inszenierung hat am 17. September an der Schaubühne Berlin Premiere – am hauptstädtischen Wahlwochenende. All die Kandidaten, all diese trüb-aufdringlichen Gesichtsfälschungen, von sämtlichen Parteien derzeit plakativ an Laternen und Bäume gehängt – sähen sie alle diese Aufführung: Vielleicht ränge sich einer der Kandidaten zur revolutionärsten, einzig vertrauenerweckenden Losung durch: »Ich verspreche euch nur eines, aber das halte ich garantiert – ich bin keinen Deut besser als alle anderen!«
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