Berlusconis Arznei bringt den Kranken um
Italiens Linkspolitiker Nichi Vendola im ND-Interview
ND: Ein interessanter Zahlenvergleich: Alle Bürgermeister und Stadträte kleinerer italienischer Städte kosten zusammen 5,8 Millionen Euro. Genauso viel zahlen die Mitglieder der Abgeordnetenkammer für ihre Restaurantbesuche. Ministerpräsident Berlusconi wollte Gemeinden zusammenlegen, um Geld zu sparen. Da wird doch wohl am falschen Ende gekürzt?
Nichi Vendola: Es gab verschiedene Fassungen des italienischen Sparpakets, keine davon ist bisher endgültig. Von den Kürzungen für die Politiker ist allerdings wenig übrig geblieben. Die größten Abstriche werden am Sozialstaat vorgenommen. Es gibt tatsächlich gehässige Privilegien in der Welt der Politik. Merkwürdig ist nur, dass sich ausgerechnet die Regierung Berlusconi jetzt über diese Privilegien beschwert. Diese Minister regieren seit 15 Jahren das Land – der Berlusconismus ist eine Epoche. Damit man das soziale Gemetzel verbergen kann, sagt die Regierung: »Wir werden die Reichen härter schlagen« und »Wir werden die politische Kaste schlagen«. Berlusconi richtet den Zeigefinger auf die Politiker – er, der seit 15 Jahren Herr der politischen Kaste und der Medienlandschaft ist, und noch dazu der reichste Mann im Land!
Die Diskussion über die Einsparungen in den Gemeinden ist dramatisch. Bei der Korruption oder den Spesen der Politiker wird die Regierung nicht kürzen, dafür bei den Rechten der Bürger. Wird Apulien von den Sparmaßnahmen getroffen, werde ich die öffentlichen Verkehrsmittel, die Umweltpolitik und die Kindertagesstätten abschaffen müssen.
Warum zeigen die Italiener Berlusconi denn nicht endlich die rote Karte?
Die Italiener warten nur darauf, die Gelegenheit dafür zu haben. Das Parlament hat bereits versucht, Berlusconi davonzujagen. Man hatte darauf gesetzt, dass die Rechten, die sich mit ihm gestritten haben, zur Opposition überlaufen. Aber Berlusconi hat Abgeordnete dafür bezahlt, dass sie ihn weiter unterstützen. Bei den Kommunalwahlen und beim jüngsten Referendum hat er immerhin eine Niederlage einstecken müssen. Doch Anti-Berlusconismus kann nicht nur moralische Kritik an Berlusconi sein. Wir brauchen ein alternatives Modell.
Wie könnte dieses Modell aussehen?
Berlusconismus bedeutet, alles zu privatisieren – das Ende der Gemeingüter. Also muss das Programm der Linken darin bestehen, den öffentlichen Raum und die Gemeingüter wiederzuentdecken.
Aber wie geht die Linke mit Italiens Schuldenlast um?
Am Anfang der Krise stand die neoliberale Revolution. Die Arbeit wurde abgeschafft und die Finanzwirtschaft in den Mittelpunkt gestellt. In den letzten drei Jahrzehnten entstand das größte soziale Gefälle, das man in der Geschichte beobachten kann. Die Krise ist das Kind dieses Wahnsinns. Die reale Wirtschaft steht nicht mehr im Mittelpunkt. Momentan wird Geld durch Geld produziert. Warum wird die Finanzwirtschaft nicht gebremst? Früher hat bei uns der Chef einer Autofabrik 40 Mal mehr als ein Arbeiter verdient, heute verdient er 450 Mal so viel. Wir müssen in Bildung, Forschung und grüne Ökonomie investieren. Die italienischen Sparpakete sind eine Arznei, die den Kranken umbringt. Die Reichen müssen mehr zahlen und Privilegien müssen gekürzt werden. Wir müssen verhindern, dass die Schuldenbremse in die Verfassung geschrieben wird. Besser wäre es, die Vollbeschäftigung gesetzlich zu verankern.
Wie wollen Sie Arbeit schaffen? Betrachten Sie Industrialisierung als Lösung?
Wir haben in Italien nicht die Chance, uns so wie in Deutschland oder Frankreich auf Auto-, Chemie- oder Stahlindustrie zu stützen. Industrialisierung wäre ein Teil der Lösung. Ich meine aber nicht die Industrialisierung des 19. oder 20. Jahrhunderts. In meiner Region habe ich Kulturindustrie aufgebaut, Film- und Musikindustrie. Aber ich würde auch die mechanische Industrie, Stahl-, Chemie- oder Textilindustrie unterstützen. Der Kompass für die Zukunft ist die Innovation.
In Kalabrien gibt es die kleine Gemeinde Riace. Dort schaffte es der Bürgermeister Domenico Lucano, das aussterbende Dorf mit Hilfe von Flüchtlingen zum Blühen zu bringen.
Migranten sind ein Teil der Lösung. Wir haben in Italien an die drei Millionen Familien, die ihren Hausschlüssel an Pflegepersonal übergeben haben. Die Migranten leben und arbeiten bei den Familien. Ohne Migranten könnten unsere Renten nicht gezahlt werden. Europa ist ein alter Kontinent, es gibt bei uns zu wenige Kinder und zu wenig neue Ideen. Die Migranten sind eine der wenigen Lösungen für unseren alten Kontinent.
Brauchen wir eine neue Vision für das alte Europa?
Vielleicht ist es wirklich an der Zeit, die Vereinigten Staaten von Europa aufzubauen. Wir brauchen ein linkeres und vielleicht auch ein christlicheres Europa. Wir müssen die alte Utopie und die Demokratie wieder ins Leben rufen. Und wir brauchen eine post-ideologische, pluralistische Linke, eine Linke für das Volk und die Jugend.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.