Theater Stendal: Woher diese Angst?

Macbeth sehen, Stalin denken. Und ist Liebe Freiheit oder Gefängnis?

  • Kerstin Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Theater Stendal: Woher diese Angst?

Die Mauern sind hoch, darüber wellt sich Stacheldraht. Im Stacheldraht haben sich Volleybälle verfangen. Wer sollte sie da wieder herausholen? Also blieben sie drin. Was für ein Bild des Eingesperrtseins! Nichts könnte sinnfälliger machen, dass zwischen diesen Mauern bis eben noch Menschen lebten. Das Stendaler Gefängnis wurde erst im Januar 2010 geschlossen. Wir sind die ersten, die es seitdem wieder betreten, Theaterleute und Publikum.

Das Theater der Altmark hat die Angst zum Spielzeitmotto gemacht. Denn ist nicht auch die Angst ein Eingesperrtsein, nicht unbedingt in sichtbaren Mauern, sondern in die manchmal viel übleren des eigenen Ich? Aber es gibt noch viel mehr Gründe. Der Stendaler Chefdramaturg Sascha Löschner steht im Gefängnishof, auch sein Blick bleibt immer wieder an den Bällen im Draht hängen. Die Studie einer großen Versicherung hat ergeben, dass die ängstlichsten Deutschen in Sachsen-Anhalt wohnen.

Bloß wovor haben sie Angst? – wohl vor dem, wogegen keine Vollkaskoversicherung hilft: vorm Dasein selbst, dieser großen Unsicherheitsrelation. Angst ist nicht Furcht, sie hat kein konkretes Objekt. Sie ist – zumindest für den Nichtgefangenen – der Schauder der Freiheit und die Panik, den Anschluss an das Leben zu verlieren.

Doch Intendant Dirk Löschner und Sascha Löschner wollten es genauer wissen. Also folgte ein Aufruf an alle Stendaler, die eigene Angst auszustellen: im Gefängnis. Nur ist Angst nicht zuletzt die Angst, über sie zu sprechen, zumal in kleineren Städten. Ängste stellen bloß, sind Eingeständnis der Schwäche. Und diese Gesellschaft verlangt als grundsätzliche Qualifikation Stärke, gern auch gespielte Stärke, Hauptsache Stärke. Vielleicht war es das, was Ostler nach 1989 am meisten irritierte; mancherorts ist das Erstaunen über dies – fürwahr beängstigende – Talent bis heute nicht gewichen.

Und dann übertraf die Beteiligung jede Erwartung. So geht man nun durch ein Panoptikum der Angst, von Zelle zu Zelle. Da ist die der Mädchen und Jungen aus der Jugendpsychiatrie, die die harten Wände des eigenen Ich spüren, Wände aus Angst; da ist die Angst vorm Verlöschen im Alter und viele mehr. Die größte Zelle der Angst aber war immer schon eingerichtet: die Dunkelzelle.

Vielleicht ist Stendal der erste Ort, der aus der Angst ein Festival macht, das Angst(frei)-Festival eben. Hier ist nichts bloßer Effekt, bloße Staffage. Nicht einmal die Frist ist zufällig. Bis zum Sonntag, dem 11. September, ist das Stendaler Gefängnis noch offen für alle, und jeden Tag wird auf den Gefängnisfluren Theater gespielt. Die Farce »Polizei« von Slavomir Mrozek macht jeden Besucher zum potenziellen Gefangenen und er wird, wenn er Pech hat und seine Nummer aufgerufen wird, auch so behandelt. »Der Unterschied zwischen einem Gefängnis und der Freiheit ist der, dass im Gefängnis sich das ganze Gefängnis um den Gefangenen kümmert, während der Freie allein und einsam ist«, weiß Mrozek, der Autor.

Und doch ist das eigentliche Theater der Angst nicht dieses absichtsvoll trashige Gefängnis-Mitmachstück in der Regie von Ludger Lemper. Es findet vielmehr auf der gewohnten Bühne statt und könnte sich auf jeder größeren, hauptstädtischen etwa, sehen lassen. Dirk Löschner hat Shakespeares »Macbeth« inszeniert als das, was es ist: als Drama der Angst. Die kongenial reduktionistische Bühne Christopher Melchings ist nichts als ein highway to hell, er scheint geradewegs in den Himmel zu führen – nach ganz oben eben –, aber wir wissen es besser.

Die mörderischen Diktatoren sind wahrscheinlich die angstbesessensten Menschen überhaupt. Warum ermordete Stalin seine Weggefährten? Warum ermordet Macbeth seinen besten Freund und Verbündeten? Einfacher und beängstigender kann man es nicht sagen als der neue König von Schottland in Heiner Müllers atemberaubender Übertragung: »Er war zu lange neben mir, als dass er unter mir sein könnte!« So simpel, so blutig.

André Vetters wird an Leib und Stimme zu einer einzigen großartigen Marionette der Angst – diese dunkle Göttin zieht alle seine Fäden. Absolute Macht macht absolut einsam. Und in jedem Augenblick dieses langen, kurzen Abends meint man, Heiner Müller zu hören: »Wir sind bei uns nicht angekommen, solange Shakespeare unsere Stücke schreibt.« Bei uns. Wo genau wäre das? Es gibt viele Definitionen dieser anderen, besseren Welt, ihr untrüglichstes Merkmal wäre wohl die Angstfreiheit.

Und dann »Nach dem Ende«, ein Kammerspiel der Angst für zwei Personen, eine junge Frau und einen jungen Mann, der sie liebt. Ja, auch die Liebe kann eine Angst sein, ist ein Gefangensein, ein Ausgesetztsein im eigenen Ich, wenn sich dieses nicht zum Doppel-Ich machen lässt. Jede Liebe ist zuerst ein Raumphänomen, eine Ich-Erweiterung. Und davon sollte das Du nicht betroffen sein?

Das Stück des jungen Briten Dennis Kelly lässt seinen Darstellern nur eine Chance, es zu überstehen. Ohne die größtmögliche, oft auch quälende, an alle Grenzen gehende Binnenspannung zwischen beiden fiele es sofort in sich zusammen. Frederike Duggen und Sören Ergang sind diesem Exerzitium in der Regie von Julia Heinrichs eindrucksvoll gewachsen. Dass dieses Kammerspiel zugleich das Stück zum 11. 9. ist, mag hier als Behauptung stehen bleiben.

Was ist der Mensch? Vom Hof des Stendaler Gefängnisses aus gesehen am ehesten ein gen Himmel geworfener Ball. Schon dieser Flug ins Offene bewirkt die Angst. Sie gehört zu uns.

Festival »Angst(frei)« mit dem Stück »Polizei« bis 11. 9. in der früheren JVA Stendal; »Macbeth« am 12. 10.; »Nach dem Ende« am 11. 9.

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